Bali-Tiger: Ein kolonialzeitliches Opfer des Jagdtourismus
Kurz nachdem die zu Indonesien gehörende Insel Bali 1908 unter niederländische Kolonialherrschaft geriet, entstanden auch schon die ersten Fotografien, die weiße Männer in Leinenanzügen mit Tropenhelmen, halbnackte Inselbewohner und getötete Bali-Tiger zeigen. Den ersten Tiger soll der ungarische Baron Oszkar Vojnich 1911 auf Bali erlegt haben. Mit In the East Indian Archipelago, 1913 in Budapest veröffentlicht, ließ er die Welt an seinem Jagderlebnis sogar teilhaben. Es heißt, Vojnich erweckte das Interesse der lokalen Bevölkerung an Tigern beziehungsweise an der Jagd auf diese. In Anbetracht dessen erscheint es paradox, dass die meisten Fotos und dokumentarischen Aufzeichnungen über den Bali-Tiger, die uns heute zur Verfügung stehen, von eben jenem Vojnich stammen sollen.
Wenn Vojnich nicht den Startschuss zur Ausrottung der Großkatze gegeben hätte, dann sicherlich jemand anderes, denn von der Nachbarinsel Java aus organisierten europäische Siedler alsbald Jagdreisen nach Bali. Ob mit oder ohne Vojnich, zahlreiche Europäer, ausgestattet mit modernen Schusswaffen und noch immer beflügelt von romantischer und gleichwohl zerstörerischer viktorianischer Jagd-Mentalität, hätten es sich bestimmt nicht nehmen lassen, nach Bali zu kommen.
Die Jagdtouristen entwickelten sogar spezielle Techniken, um die Jagd erfolgsversprechend und gleichzeitig nicht allzu gefährlich zu gestalten. So setzten die europäischen Siedler auf Eisenfallen mit Ködern wie Ziegen oder Muntjaks, in denen die Tiger tappten und nicht mehr herauskamen. Aus nächster Entfernung erschossen sie die Großkatzen schließlich.
Mit der Kolonialisierung Balis wuchs ab dem Ende des 19. Jahrhunderts die Bevölkerungszahl enorm – und der ohnehin kleine Lebensraum des Bali-Tigers schrumpfte mehr und mehr. Die Besiedlung der Insel ging mit der Rodung von Wäldern und der Zerstörung der Vegetation einher, um landwirtschaftliche Flächen zu schaffen und Holz zu gewinnen. Palmenplantagen und bewässerte Reisfelder wurden größtenteils auf Balis üppigem Vulkanland im Norden und auf dem die Insel umgebenden Schwemmland geschaffen.
Neben dem Bali-Tiger sind noch eine Menge andere Großkatzen in historischer Zeit ausgestorben: Dazu gehören unter anderem der Sansibar-Leopard (1991), der Östliche Puma (1938), der Kaplöwe (1865), der Berberlöwe (1942) oder der Taiwanische Nebelparder (1983). Keine Großkatze, aber auch ausgestorben, ist die zur Gattung der Schleichkatzen gehörende Königsgenette (Mitte des 20. Jahrhunderts).
Bali-Tiger – Steckbrief
alternative Bezeichnungen | Balitiger, Sunda-Tiger, Samong, Harimau Bali |
wissenschaftliche Namen | Panthera tigris sondaica, Panthera tigris balica, Panthera tigris ssp. balica, Panthera sondaica ssp. balica, Felis tigris balica |
englische Namen | Bali Tiger, Balinese Tiger, Sunda Island Tiger |
ursprüngliches Verbreitungsgebiet | Bali (Indonesien, Indischer Ozean) |
Zeitpunkt des Aussterbens | 1940er-Jahre |
Ursachen für das Aussterben | Bejagung, Lebensraumverlust |
Mutmaßliche Sichtungen des Bali-Tigers bis in die 1970er-Jahre
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren Bali-Tiger nur noch in Bergregionen und im weniger besiedelten westlichen Teil der Insel zu finden. Mitte der 1930er-Jahre sind die meisten Bali-Tiger bereits zu Museumsexemplaren oder Trophäen geworden.
Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Population der Bali-Tiger nie sehr groß gewesen war, da Bali mit 5.708 Quadratkilometern eine vergleichsweise kleine Insel ist. Zum Vergleich: Die Nachbarinsel Java hat eine Fläche von 126.700 Quadratkilometern.
Im The Doomsday Book of Animals (1981) gibt David Day den 27. September 1937 als den Tag an, an dem der letzte Tiger, ein ausgewachsenes weibliches Tier, im westlichen Teil Balis bei Sumbar Kima erschossen worden sein soll. Dieser Fall ist zwar gut dokumentiert, aber vieles deutet darauf hin, dass die Großkatze noch eine Weile auf Bali überlebte. So wurde etwa, laut IUCN, ein von den Niederländern angelegter Naturpark, der Vorläufer des heutigen Nationalparks Bali Barat, 1941 als Rückzugsort für Bali-Tiger gegründet. Das impliziert zumindest die Existenz von Bali-Tigern um 1941 herum. Nichtsdestotrotz: Die Schaffung eines Rückzugsortes für den Bali-Tiger kam zu spät.
In den 1940er-Jahren kam es vermehrt zu Meldungen über Bali-Tiger-Sichtungen; das setzte sich in den 1950er-Jahren fort, allerdings mit abnehmender Häufigkeit. Zum Beispiel will ein niederländischer Forstwissenschaftler, dessen Aussage als verlässlich gewertet wird, 1952 einen Bali-Tiger gesehen haben. Die letzten mutmaßlichen Sichtungen stammen aus den 1970er-Jahren: Eine Sichtung erfolgte 1970 in einem westlichen Reservat und balinesische Forstarbeiter wollen 1972 einen Tiger gesehen haben.
Experten gehen heute im Allgemeinen davon aus, dass die letzten Bali-Tiger zum Ende des 2. Weltkrieges verschwanden. Dies zu belegen ist aber schwierig, denn es gibt keine fundierten Aufzeichnungen zur Tierwelt Balis. Die Geschichte der Insel ist von Invasionen, Unterwerfung, Kolonialisierung und Krieg geprägt.
Was vom Bali-Tiger geblieben ist
Im Gegensatz zu anderen Tiger-Unterarten ist über die Biologie und Ökologie des Bali-Tigers wenig bekannt. Schon der deutsch-amerikanische Zoologe Ernst Schwarz beschrieb die Art 1912 nur anhand eines Schädels und eines Fells aus der Sammlung des Senckenberg-Museums in Frankfurt. Ungewiss ist auch, ob Bali-Tiger jemals in zoologischen Gärten gehalten wurden. Nur über den 1884 in den USA gegründeten Ringling Brothers Circus weiß man anhand von Fotografien, dass dort Bali-Tiger dressiert wurden. Zudem gibt es ja noch die bereits erwähnten alten, teilweise später kolorierten und ungenau datierten Fotos aus der Kolonialzeit, die erlegte Bali-Tiger zeigen.
Einige wenige Schädel, Häute und Knochen existieren noch in Museumssammlungen. Beispielsweise im British Museum in London befindet sich die größte Sammlung: zwei Häute und drei Schädel. Im Zoologischen Museum von Bogor, Indonesien, sollen die Überreste des letzten bekannten Bali-Tigers aufbewahrt werden. Und 1997 tauchte noch ein Schädel in einer alten Sammlung des Hungarian National History Museum auf.
Der Bali-Tiger zählt zu den drei insularen Tigern Indonesiens. Die beiden anderen Insel-Spezies sind der heute ebenfalls verschwundenen Java-Tiger (Panthera tigris sondaica) auf der Insel Java und der vom Aussterben bedrohte Sumatra-Tiger (Panthera tigris sumatrae) auf Sumatra.
Der Bali-Tiger war relativ klein im Vergleich zu anderen Tigern. Der Grund dafür lag wahrscheinlich im auf die Insel begrenzten Lebensraum, dem Fehlen von Fressfeinden und dem begrenzten Vorkommen an Beutetieren. Bali-Tiger erreichten eine Länge von 180 bis 220 Zentimeter (inklusive Schwanz) und besaßen eine Schulterhöhe von 60 bis 68 Zentimeter. Die Weibchen wogen rund 80, die Männchen etwa 100 Kilogramm. Das klingt ja erst einmal nicht nach Inselzwergwuchs, doch verglichen mit dem Sibirischen Tiger (Panthera tigris altaica) sind das wirklich überschaubare Ausmaße: Männliche Sibirische Tiger sind mit Schwanz nämlich fast drei Meter lang und wiegen 250 Kilogramm.
Unterscheiden sich Bali- und Java-Tiger tatsächlich?
Als Schwarz den Bali-Tiger 1912 wissenschaftlich beschrieb, verlieh er ihm den Namen Felis tigris balica und argumentierte, dass sich der Bali-Tiger vom Java-Tiger durch seine hellere Fellfarbe und einen kleineren Schädel mit kleinerem Jochbogen unterscheiden würde. Der Bali-Tiger sei „aufgrund seiner sehr kleinen Größe leicht unterscheidbar“ von den anderen Tigern der Sundainseln.
Auch der tschechoslowakische Zoologe Vratislav Mazák konstatierte 1983 in Der Tiger die optischen Unterscheidungsmerkmale der Sundainsel-Großkatzen. Laut Mazák sei der Bali-Tiger der kleinste der drei Insel-Tiger gewesen. Er habe die dunkelste Färbung besessen und sein Streifenmuster war eher breit mit dunklen Flecken zwischen den Streifen, die man bei Tigern sonst nicht findet.
Es existieren zudem zwei gängige Theorien, die die enge Verwandtschaft von Java- und Bali-Tiger belegen sollen. So wird angenommen, dass sich in der Eiszeit ein Teil der Insel Java abtrennte und zur Insel Bali wurde, sodass sich die Tigerpopulation aufspaltete. Eine andere Möglichkeit ist, dass einige Tiger die nur 2,4 Kilometer breite Meerenge zwischen Java und Bali nutzten, um von Java nach Bali zu schwimmen.
Dass Bali- und Java-Tiger tatsächlich Unterschiede aufweisen, wurde bereits 1969 durch den deutschen Zoologen Helmut Hemmer infrage gestellt. So zeigten morphologische Analysen, dass die Schädel der Tiger von Bali kaum Größenunterschiede zu den Tigerschädeln von Java aufweisen. Auch bei der Farbe und Musterung des Fells würden keine signifikanten Unterschiede zum Vorschein kommen.
2015: Endlich sind genetische Analysen möglich
Genetische Analysen brachten schließlich Licht ins Dunkel. Für die Studie Genetic Ancestry of the Extinct Javan and Bali Tigers (2015) verglichen Forscher die mitochondriale DNA von 23 Museumsexemplaren des Bali- und Java-Tigers mit 122 mtDNA-Proben aller lebender Tigerunterarten und dem ausgestorbenen Kaspischen Tiger (Panthera tigris virgata).
Das Ergebnis zeigt eine große genetische Ähnlichkeit zwischen den drei Arten auf den Sundainseln: dem Bali-, dem Java- und dem Sumatra-Tiger. Der Studie zufolge, bilden der Java-, Bali- und Sumatra-Tiger daher eine monophyletische Gruppe oder Klade. Alle drei Unterarten gehen auf einen gemeinsamen Vorfahren zurück. Die Tiger haben die Sundainseln während der letzten Eiszeit vor 11.000 bis 12.000 Jahren besiedelt. Als geschlossene Abstammungsgemeinschaft oder Evolutionszweig unterscheiden sich die Tiger von Bali, Java und Sumatra von den Tigern des asiatischen Festlandes.
Aus 9 mach 2: Eine Revision der Tiger-Taxonomie
Die Cat Classification Task Force der Cat Specialist Group setzte der ganzen Diskussion ein Ende und revidierte 2017 die Taxonomie der Katzen in A revised Taxonomy of the Felidae. Basierend auf den vorangegangenen Genanalysen ist die Expertengruppe der Überzeugung, dass die bisherige Einteilung der Tiger in neun Unterarten nicht mehr haltbar ist. Wirklich klar genetisch unterscheidbar sind nur die Tiger der Sundainseln von den asiatischen Festlandtigern.
Die Experten empfehlen daher, dass es nur noch zwei statt neun Tiger-Unterarten geben soll:
- Sunda-Tiger (Panthera tigris sondaica): Dazu gehören die Tigerpopulationen auf Bali, Java und Sumatra inklusive balica und sumatrae. Sunda-Tiger unterscheiden sich vom Festlandtiger durch ihre kleinere Größe und dem dunkleren Fell mit mehr Streifen.
- Festlandtiger (Panthera tigris tigris): Dazu gehören die Tigerpopulationen des asiatischen Festlandes (Indien, Pakistan, Nepal, Bhutan, Sikkim, China, Russland, Indochina und die Malaiische Halbinsel) inklusive virgata, altaica, amoyensis, corbetti und jacksoni. Im Vergleich zu den Sunda-Tigern sind Festlandtiger größer und besitzen ein helleres Fell mit weniger Streifen.
Und am Ende bleiben dem ausgestorbenen Bali-Tiger nicht einmal sein Name und sein Artstatus.
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