Die erste wissenschaftlich beschriebene Schnecke Hawaiis
Die Baumschnecke Achatinella apexfulva gilt nicht nur als die erste wissenschaftlich beschriebene Schnecke des Hawaii-Archipels, sondern auch als die erste, die offiziell ausstarb. Die Erstbeschreibung der Spezies geht auf das Jahr 1789 zurück, als der britische Seefahrer und Entdecker George Dixon bei seinem Besuch der Hawaii-Inseln zwischen 1786 und 1787 eine traditionelle Halskette aus Schneckenschalen erwarb. Der Schmuck bestand vollständig aus Achatinella apexfulva und Achatinella decora; letztere starb bereits um 1900 aus.
Das Aussterben der Spezies A. apexfulva ist ziemlich gut dokumentiert, denn das wohl letzte Exemplar der Art lebte in einem Terrarium in der University of Hawaii. George, der nach der Galápagos-Riesenschildkröte Lonesome George benannt wurde, der ebenfalls der letzte seiner Art – ein Endling – war, starb am Neujahrstag 2019 im Alter von 14 Jahren.
Geboren wurde George 2004 oder 2005 in einem Labor der University of Hawaii in Manoa. Als klar wurde, dass die Schnecken der Spezies A. apexfulva immer weniger wurden, sammelten Wissenschaftler 1997 Georges Eltern und alle verbliebenen Artangehörigen in den Bäumen nahe des Poamoho Trail auf der hawaiianischen Insel O’ahu, so Christie Wilcox in einem Artikel für National Geographic 2019. Ihr Plan war, die Tiere in Gefangenschaft zu züchten, um so die Art zu retten.
Sämtliche unter Laborbedingungen gezüchtete Nachkommen verstarben aber aus unbekannten Gründen – bis auf eine Ausnahme: George. Zum Zeitpunkt seiner Geburt existierten noch rund 20 Individuen in Gefangenschaft, Mitte der 2000er-Jahre gab es nur noch George. Er wurde 2012 geschlechtsreif und Schneckenforscher versuchter während dieser Zeit immer wieder, weitere Artgenossen in freier Wildbahn aufzuspüren, leider erfolglos.
In den letzten Jahren erhielten die Baumschnecken von O’ahu viel Aufmerksamkeit; zum einen weil sie in ihrem Bestand besonders gefährdet sind und zum anderen, weil George als Repräsentant der Gattung Achatinella das Aussterben einer Spezies vor Augen führte. Der Zoologe Robert H. Cowie schätzte schon 2001 in Can Snails ever be effective and safe Biocontrol Agents?, dass die Aussterberate der Baumschnecken bei 75 bis 90 Prozent liege. Die meisten Arten würden nur noch auf einem einzigen Bergkamm oder in einem einzigen Tal vorkommen.
Achatinella apexfulva – Steckbrief
wissenschaftliche Namen | Achatinella apexfulva, Achatinella pica, Achatinella lugubris, Achatinella vespertina, Achatinella apicata var. alba, Achatinella apicata, Achatinella swiftii, Achatinella aptycha, Helix Avex Fulva, Turbo apexfulva, Turbo lugubris, Monodonta seminigra, Bulimus seminiger, Apex gulickii, Apex lilaceus |
englische Namen | Dusky-apex Oahu treesnail, Dusky-apex Oahu tree-snail, Yellow-tipped Oahu tree snail |
ursprüngliches Verbreitungsgebiet | Oahu (Hawaii) |
Zeitpunkt des Aussterbens | 2019 |
Ursachen für das Aussterben | auf Insel eingeschleppte Tiere und Pflanzen, Schneckensammler, Lebensraumverlust |
Eine daumennagelgroße Spirale in Dunkelbraun und Braun
Zur Familie Achatinellidae gehört die Gattung Achatinella – lebendgebärende, nachtaktive Baumschnecken, die ausschließlich auf der Hawaii-Insel O’ahu endemisch sind. Es handelt sich um Landlungenschnecken, deren Atmung über Lungenhöhlen erfolgt. Zur Gattung Achatinella gehören 41 Arten: Alle sind gefährdet oder vom Aussterben bedroht und mindestens 16 sind bereits ausgestorben (beispielsweise Achatinella buddii).
Die Weichtiere lebten einst in den Wäldern der Bergketten Koolau und Waianae auf O’ahu. Heute, so der U.S. Fish & Wildlife Service (USFWS) in seinem Recovery Plan (1993) für die Oahu-Baumschnecken der Gattung Achatinella, kommen sie in beiden Bergketten nur noch in Regionen oberhalb von 400 Metern in den verbliebenen trockenen bis feuchten Wäldern und im Buschland vor. A. apexfulva war am Ende nur noch in einem kleinen Bereich der Koolau-Bergrücken zu finden.
Die Oahu-Baumschnecken leben für gewöhnlich auf Bäumen, wo sie sich von auf Blättern wachsenden Pilzen ernähren. Sie besitzen eine teils glänzende, rechts- oder linksgewundene Schale. Julia Jacobs beschrieb George in einem Artikel (2019) für die New York Times als „daumennagelgroße Spirale in Dunkelbraun und Braun“. Tatsächlich weisen die länglichen bis eiförmigen, 1,7 bis 2,4 Zentimeter langen Schneckengehäuse innerhalb der Gattung viele unterschiedliche Form-, Farb- und Mustervariationen auf, weshalb sie von jeher Evolutionsbiologen, Malakologen und Amateursammler faszinierten.
Auch wenn George einen männlichen Namen trug, war er tatsächlich ein Hermaphrodit oder Zwitter. Landlungenschnecken sind nämlich doppeltgeschlechtlich, das heißt, die Individuen einer Art besitzen sowohl männliche als auch weibliche Keimzellen und Geschlechtsorgane. Es war George nicht möglich, sich ohne Partner fortzupflanzen.
Warum ist die Oahu-Baumschnecke Achatinella apexfulva ausgestorben?
Aufgrund ihrer langsamen Reproduktionsrate und ihres langsamen Wachstums reagieren die Baumschnecken von O’ahu empfindlich auf Störungen. Achatinella-Schnecken können jedes Jahr nur wenige Nachkommen zeugen und brauchen rund sechs Jahre bis zur Geschlechtsreife. Früher noch waren die Schnecken sehr häufig, weshalb sie auch in vielen hawaiianischen Liedern und Märchen Erwähnung fanden, heute ist das Gegenteil der Fall.
Zerstörung natürlichen Lebensraums
Die Zerstörung von Wäldern und die Einschleppung invasiver Pflanzenarten begann bereits mit der Ankunft der Polynesier auf dem Hawaii-Archipel vor mehr als 1.000 Jahren; noch schlimmer wurde es mit den Europäern, die ab 1778 nach Hawaii kamen. Der USFWS schreibt, dass mit der Besiedlung der Inselkette die Landschaften in niedrigeren Höhenlagen, die zuvor von Baumschnecken bewohnt waren, als Weideland, für die Landwirtschaft (insbesondere für Zuckerrohr und Ananas) und für Behausungen genutzt wurde.
Nicht gerodete Wälder wurden von verwildertem Vieh, etwa Ziegen, Pferden oder Schweinen, zerstört – alles Tiere, die von den Siedlern mit eingeschleppt wurden. Sie zerstörten das Gleichgewicht zwischen den endemischen Pflanzenarten: Durch das Grasen nimmt das Unterholz des Waldes Schaden und das Nachwachsen einheimischer Pflanzen wird verhindert. Dies wiederum ebnet den Weg für nicht-heimische Pflanzen und ihre Samen. Die Veränderungen im Unterholz haben auch dazu geführt, dass sich Feuchtigkeit und Nässe in den Wäldern verändert haben, sodass sie für Schnecken keinen geeigneten Lebensraum mehr darstellen.
Noch heute stellen Ziegen und Schweine eine ernsthafte Bedrohung für die Wälder Hawaiis dar, so der USFWS. Auch anthropogene Aktivitäten unterstützen die Verbreitung exotischer Vegetation: Jagd, Wandern, militärische Manöver, Rodungen für illegale Marihuana-Plantagen oder der Bau von Straßen und Wegen sowie Helikopter-Landeplätzen.
Orte, an denen man ursprünglich gerodete Wälder mittels Wiederaufforstungsmaßnahmen wiederherstellte, erwiesen sich für Schnecken als unbewohnbar, da meistens nicht-heimische Pflanzen wie Eukalyptus, Eisenholz und Norfolktannen gepflanzt wurden. Außerdem haben Waldbrände – auch durch Brandrodungen – verheerende Auswirkungen auf Schnecken-Populationen – nicht unbedingt, weil das Feuer die Weichtiere direkt tötet, sondern weil sich invasive Pflanzen schnell in den verbrannten Regionen ausbreiten können. Exotische Pflanzenarten, wie etwa Miconia crenata und Dicranopteris linearis, verhindern zudem das Nachwachsen von Futterbäumen für die Baumschnecken.
Ratten, Plattwürmer und Schnecken: Verfolgung durch invasive Arten
Der USFWS betrachtet die Rosige Wolfsschnecke (Euglandina rosea), eine räuberische, aus dem tropischen Nordamerika stammende Landschnecke, und Hausratten (Rattus rattus) als wichtigste Prädatoren der Schnecken-Gattung Achatinella. Andere mögliche invasive Tierarten, die Oahu-Baumschnecken fressen, sind der Plattwurm Endevouria septemlineata, die Knoblauch-Glanzschnecke (Oxychilus alliarius), die Wanderratte (Rattus norvegicus) und die Pazifische Ratte (Rattus exulans). Miteingeschleppte Parasiten und Krankheiten könnten ebenfalls zu schwindenden Baumschnecken-Populationen beigetragen haben, wobei dies bei der Gattung Achatinella bislang nicht nachgewiesen konnte, schreibt der USFWS.
Die Rosige Wolfsschnecke wurde 1955 und 1956 vom Hawai’i State Department of Agriculture auf O’ahu zur Bekämpfung der eingeschleppten Achatschnecke (Achatina fulica), die als Schädling in der Landwirtschaft gilt, ausgesetzt. Als eine Schnecke, die andere Schnecken frisst, wählt die Rosige Wolfsschnecke ihre Nahrung jedoch nicht gezielt aus und frisst neben Achat- auch und vor allem Baumschnecken. Sie folgt den Schleimspuren anderer Schnecken und erklimmt Bäume und Büsche, um ihre Beute zu fangen.
Seit ihrer Einführung hat sich die Rosige Wolfsschnecke sowohl in den tiefer als auch in den höher gelegenen Gebieten in den Koolau und Waianae Ranges verbreitet. Außerdem vermuten Wissenschaftler, so Wilcox, dass der Klimawandel mit vermehrten Niederschlägen und erhöhten Temperaturen dazu geführt habe, dass die Rosige Wolfsschnecke in die höheren Lagen der O’ahu-Insel und damit in die letzten Rückzugsorte der Baumschnecken vorgedrungen ist. Als invasive Art wird sie auch mit dem Verschwinden aller acht Baumschnecken-Arten der Gattung Partula auf der Moorea-Insel in Französisch-Polynesien in Verbindung gebracht.
Historisches Schneckensammeln
Zur Mitte und bis ins späte 19. Jahrhundert sammelten Schneckensammler an einem einzigen Tag 10.000 oder mehr Weichtiere, schreibt Wilcox. Die Einheimischen sammelten die Schnecken wegen ihrer schönen Gehäuse, um daraus traditionellen polynesischen Hals- oder Kopfschmuck (Lei) herzustellen. Schon 1914 erkannten der Biologe Henry A. Pilsbry und der Malakologe Charles M. Cooke in Achatinellidae. Manual of Conchology, dass diverse Achatinella-Arten nur noch selten anzutreffen sind. Zwar haben die Sammlungstätigkeiten um 1940 nachgelassen, doch die meisten Arten waren bereits stark dezimiert.
Der USFWS weist darauf hin, dass das heutige Sammeln von zwei oder drei ausgewachsenen Baumschnecken bereits den Verlust eines großen Teils einer reproduktiven Population in einem Busch oder Baum bedeuten könnte. Schneckensammler haben in der Vergangenheit sicherlich einen nicht zu vernachlässigenden Beitrag zum Artenschwund unter den Baumschnecken geleistet, allerdings sieht ein Großteil der Wissenschaftler für die heutige Zeit als Hauptursache für das Verschwinden der Achatinella-Schnecken die Verfolgung durch die Rosige Wolfsschnecke an.
Der U.S. Fish & Wildlife Service fasst die vergangenen und gegenwärtigen Bedrohungen für die Oahu-Baumschnecken wie folgt zusammen: Während früher ausschließlich die Zerstörung des natürlichen Waldhabitats und die Einschleppung von Prädatoren wie Ratten die Hauptgründe für das Sinken des Baumschnecken-Bestands waren, sind es heute die Verfolgung durch die Rosige Wolfsschnecke und durch Ratten sowie der Lebensraumverlust aufgrund der Ausbreitung invasiver Pflanzenarten in die höher gelegenen Wälder. Auch das exzessive Sammeln von Schnecken wegen ihrer Gehäuse und eingeschleppte Krankheiten zieht der USFWS als Faktoren, die die Gattung bedrohen, in Betracht.
Warum es so viele Baumschnecken auf Hawaii gibt
Auf den 3.800 Kilometern vom nächsten Festland entfernten Hawaii-Inseln konnten sich aus Ermangelung an Konkurrenten einige Tiergruppen im Laufe der Zeit in viele unterschiedliche Arten auffächern. Damit die zwischenartliche Konkurrenz gering bleibt, füllen die unterschiedlichen Arten verschiedene ökologische Nischen aus. Sie leben also sympatrisch innerhalb eines kleinen geografischen Gebiets.
Dank des biologischen Phänomens der adaptiven Radiation sind auf den Hawaiiinseln neben unzähligen Blütenpflanzen, um die 400 Arten an Fruchtfliegen und eben auch rund 750 verschiedene Schneckenarten entstanden, die sich in zwei Familien von Landschnecken aufteilen, die Achatinellidae und die Amastridae.
Damit auf O’ahu viele verschiedene Achatinella-Arten entstehen konnten, muss es dort eine „Ur-Schnecke“ gegeben haben, aus der sich die Arten entwickeln konnten. Wie diese Ur-Schnecke 3.800 Kilometer über den Ozean nach O’ahu gelangt sein könnte, damit haben sich die Ökologen Brenden S. Holland und Michael G. Hadfield 2004 in der Studie Origin and Diversification of the endemic Hawaiian Tree Snails auseinandergesetzt. Eine ihrer Theorien besagt, dass ein sehr kleiner Vorfahr der Schnecke von einem Vogel auf der Insel abgeworfen wurde, zumal die Verbreitung von anderen Schneckenarten durch Vögel dokumentiert ist. Weiterhin bestehe die Möglichkeit, dass die ursprüngliche Schnecke auf einem Gegenstand, etwa ein Baum, über das Meer geschwommen ist. Auch eine Kombination beider Theorien und Inselhopping können die Ur-Schnecke nach O’ahu gebracht haben. Woher die Ur-Schnecke letztendlich gestammt haben könnte, ist unbekannt.
Das berühmteste Beispiel für adaptive Radiation sind die Kleidervögel auf Hawaii; es gab einst wohl 57 Arten, die sich nicht nur morphologisch unterschieden, sondern auch in ihrer Spezialisierung: einige waren Nektarsauger, andere Samen- oder Insektenfresser, wiederum andere ernährten sich von Seevogeleier. Viele Kleidervogel-Spezies sind bereits ausgestorben wie etwa der Annakleidervogel oder der Schwarze Mamo.
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