Ausgestorbene Wandertaube: Jungvogel, Männchen, Weibchen
Eine zwischen 1910 und 1914 entstandene Darstellung der ausgestorbenen Wandertaube: ein Jungvogel (links), ein Männchen (Mitte) und ein Weibchen (rechts). Louis Agassiz Fuertes, via Wikimedia Commons)

Wandertaube

Von der häufigsten zur ausgestorbenen Vogelart

Als europäische Entdecker im 16. Jahrhundert den Osten Nordamerikas erreichten, staunten sie über die gewaltigen Vogelschwärme, die sie in den urtümlichen Wäldern antrafen. Im Vergleich zu Europa, wo große Teile der Wälder bereits abgeholzt waren, beeindruckten sie die unermesslichen Vogelmengen der Neuen Welt. Besonders ein Vogel weckte das Interesse der Siedler: Eine auffällig schöne, etwa 40 Zentimeter lange Art, die im Sommer in den nördlichen Wäldern brütete und im Winter in den Süden zog. Aufgrund ihrer saisonalen Wanderungen erhielt sie den Namen Wandertaube.

Die Wandertaube war ein nomadischer Vogel, der auf der unaufhörlichen Suche nach Nahrung, Schutz und Nistplätzen durch Nordamerika zog. Dabei reiste sie nicht allein, sondern in riesigen Schwärmen, die sich über viele Kilometer erstreckten und Tausende, manchmal Millionen von Individuen umfassten. Die Art galt als die zahlreichste Vogelart der Welt, mit einer geschätzten Population von drei bis fünf Milliarden Vögeln. Ihre Schwärme waren so groß, dass sie den Himmel für Stunden verdunkeln konnten. Der Zoologe Igor Akimuschkin beschreibt eindrucksvoll, wie solch eine von Tauben verursachte „Sonnenfinsternis“ ausgesehen haben mag:

„Diese Vögel tauchten am Himmel in so dichten Schwärmen auf, dass die Sonne buchstäblich nicht mehr zu sehen war. Es wurde schummrig wie während einer Sonnenfinsternis, von Horizont zu Horizont sah man nichts als fliegende Tauben, Vogelmist fiel wie Schnee vom Himmel, und das pausenlose Rauschen der Flügel klang wie das Brausen des Sturmwindes. Stunden vergingen, doch immer noch flogen die Wandertauben, und das Ende des Schwarms war ebenso wenig zu erkennen wie sein Anfang.“

Vom Aussterben bedroht? S. 36f. 1972. I. Akimuschkin

Berichte aus der Zeit, wie etwa der eines Mannes aus Virginia im Jahr 1614, zeichnen ein ähnliches Bild. Er erzählte von Schwärmen, die er mehrere Stunden lang am Himmel beobachtete, so dicht, dass „das Firmament unseren Augen entzogen war.“ Der berühmte Ornithologe John James Audubon beschrieb 1813 einen Schwarm über Kentucky, der drei Tage brauchte, um vollständig vorbeizuziehen.

Derartige Berichte über die gewaltigen Schwärme, die den Himmel verdunkelten, klingen aus heutiger Sicht fast unglaublich. Doch die Übereinstimmung zahlreicher unabhängiger Beobachtungen aus dieser Zeit bestätigt die immense Größe der Populationen. Naturforscher wie Alexander Wilson und John James Audubon schätzten die Größe der vorbeiziehenden Schwärme auf über zwei Milliarden Vögel. Eine Sichtung aus dem Jahr 1866 beschreibt sogar einen Schwarm, der mehr als 14 Stunden lang den Himmel bedeckte und auf über drei Milliarden Individuen geschätzt wurde.

Wandertaube – Steckbrief

alternative BezeichnungenAmerikanische Wandertaube, Strichtaube, tourte
wissenschaftliche NamenEctopistes migratorius, Columba migratoria, Columba canadensis, Ectopistes migratoria, Palumbus migratorius, Columba macroura
englische NamenPassenger pigeon, Wild pigeon, Migrating dove
ursprüngliches VerbreitungsgebietNordamerika (USA, Kanada)
Zeitpunkt des Aussterbens1914
Ursachen für das AussterbenBejagung, Lebensraumverlust, langsame Reproduktionsrate
IUCN-Statusausgestorben

Verbreitungsgebiet und Wanderverhalten der Wandertaube

Die Wandertaube, bekannt für ihr nomadisches Zugverhalten, war in weiten Teilen Nordamerikas östlich der Rocky Mountains beheimatet. Ihr Verbreitungsgebiet erstreckte sich von den Great Plains im Westen bis zur Atlantikküste im Osten und von Südkanada bis in den nördlichen Teil der USA, nördlich des Mississippi. Dabei bevorzugte sie die ausgedehnten Laubwälder des Ostens und zog in riesigen Schwärmen auf der ständigen Suche nach Nahrung, Nistplätzen oder Schutz vor der Witterung umher. Diese Schwärme waren so groß, dass sie oft mehrere Tage andauerten und die Vögel in Geschwindigkeiten von über 100 Kilometern pro Stunde flogen.

Wandertaube Verbreitungsgebiet und Brutplätze
Die Karte zeigt das einstige Verbreitungsgebiet (orange) und die Nistplätze (rot) der Wandertaube.
Valérie Chansigaud, CC BY-SA 1.0, via Wikimedia Commons)

Ihr Zugverhalten war stark von den jeweiligen Umweltbedingungen, insbesondere vom Nahrungsangebot und den Wetterverhältnissen, abhängig. Die Wanderungen der Wandertaube waren nicht saisonal festgelegt, sondern richteten sich nach der Verfügbarkeit von Nahrung, wie Eicheln oder Nüssen. In Jahren mit reichlichem Nahrungsangebot blieben die Schwärme länger an einem Ort. In Jahren mit schlechter Versorgung zogen sie weiter. Strenge Winter und dichte Schneedecken trieben die Vögel in den Süden, während milde Bedingungen es ihnen ermöglichten, im Norden zu verweilen.

Ein besonderes Merkmal ihres Verhaltens war die Präzision, mit der die Wandertauben sich als Schwarm bewegten. Wenn Greifvögel auftauchten, formten sie kompakte Wolken, die blitzartig ihre Richtung wechselten, um den Angreifern zu entkommen. Die Schwärme flogen in dichten Formationen, die sich wellenartig oder spiralförmig durch die Luft bewegten. Durch schnelle und kraftvolle Flügelschläge, bei denen die Flügel nah am Körper gehalten wurden, konnten sie ihre Geschwindigkeit weiter steigern. Diese Flugtechnik ermöglichte es ihnen, sowohl durch offene Landschaften als auch durch dichte Wälder mit hoher Geschwindigkeit zu navigieren.

Auf dem Boden hingegen bewegten sich die Tauben in kurzen, ruckartigen Schritten, stets wachsam und bereit, bei Gefahr wieder in die Luft zu steigen. Die Fähigkeit der Wandertaube, in einem Schwarm wie ein einzelner Organismus zu agieren, trug entscheidend zu ihrem Überleben bei. Jeder Vogel im Schwarm folgte exakt den Bewegungen des Leitvogels, was es ihnen ermöglichte, Raubtieren in perfekter Synchronität auszuweichen.

Die Wandertaube als Ernteschädling

Die Wandertaube ernährte sich hauptsächlich von Nüssen, die in den sogenannten Mastjahren, also in Jahren mit besonders reichem Nahrungsangebot, in großen Mengen zur Verfügung standen. Besonders Bucheckern, Eicheln verschiedener amerikanischer Eichenarten und die Nüsse der Amerikanischen Kastanie bildeten die Hauptnahrung dieser Vögel. Zusätzlich fraßen sie im Sommer Beeren und Früchte wie Heidelbeeren, Holunderbeeren, Trauben, Kirschen und Maulbeeren. Auch Samen von Feldahorn und Ulmen standen auf ihrem Speiseplan. Obwohl ihre Nahrung größtenteils pflanzlich war, verzehrten sie zur Jungenaufzucht auch Insekten wie Raupen und Regenwürmer. Da die Wandertauben auch Getreidefelder aufsuchten, wurden sie von den Bauern oft als Schädlinge betrachtet, da sie befürchteten, ihre Ernten könnten durch die Vögel vernichtet werden.

Wandertaube mit Nahrung
Eine 1749 erstellte Illustration der Wandertaube von dem deutschen Künstler Johann Michael Seligmann. Zu sehen sind auch Eichenblätter, vermutlich von der Roteiche (Quercus rubra) und der Weißeiche (Quercus alba), sowie Eicheln, die zur Hauptnahrung der Wandertaube gehörten. (© Johann Seligmann, Public domain, via Wikimedia Commons)

Die Nahrungsaufnahme der Wandertaube erfolgte in riesigen Schwärmen, die über die Felder und Wälder zogen und dabei immense Mengen an Nüssen und Getreide fraßen. Die Vögel pickten Nüsse vom Boden oder pflückten sie direkt von den Bäumen. Ständig in Bewegung, flogen die Tauben in den hinteren Reihen über ihre Artgenossen in den vorderen Reihen hinweg, um frisches Futter zu erreichen. Ihre Anatomie ermöglichte ihnen eine beeindruckende Effizienz beim Sammeln und Verdauen: Der Kropf einer Wandertaube konnte die Größe einer Orange erreichen und speicherte große Mengen Nahrung. Zudem verfügten die Vögel über einen kräftigen Muskelmagen, der es ihnen erlaubte, selbst harte Nüsse zu zerkleinern.

Das massenhafte Auftreten der Wandertauben richtete teils immense Schäden an. Die Vögel durchstreiften Felder und fraßen große Mengen an Getreide. In manchen Regionen galten Wandertauben daher als Plage, da sie binnen weniger Stunden fast komplette Ernten vernichten konnten. Auch die Wälder litten unter den Schwärmen: Das Gewicht der Tauben brach dicke Äste, auf denen sie in Massen saßen, und der Kot, der von den Bäumen auf den Waldboden fiel, zerstörte die Vegetation. Der Verzehr von Nüssen, insbesondere Eicheln, erschöpfte zudem die natürlichen Ressourcen der Wälder. Der amerikanische Ornithologe Alexander Wilson schätzte die Größe eines Schwarms, den er 1810 beobachtete, auf über 2,2 Milliarden Vögel und errechnete eine tägliche Futtermenge von etwa 600 Millionen Litern Eicheln.

Eine Zeitungsmeldung in der Marshall County Republican von 1857 verdeutlicht die damalige Besorgnis der Bevölkerung über die Schäden, die die Tauben anrichteten. Darin wurde aufgefordert, die Vögel abzuschießen und als Nahrung zu nutzen:

Wandertauben in einem Zeitungsartikel 1857
„Wandertauben werden hier in der Gegend sehr zahlreich. Schießt sie, oder sie werden eure Weizenfelder plündern. Sie ergeben auch keinen schlechten altmodischen Eintopf.“
Marshall County Republican, Public domain, via Wikimedia Commons)

Trotz der verursachten Schäden spielten Wandertauben eine wichtige Rolle im Ökosystem, da sie durch das Stören von Wäldern und das Freilegen von Bodenflächen zur Entstehung neuer Lebensräume für andere Arten beitrugen. Nach ihrem Aussterben hinterließen sie eine ökologische Lücke in den Wäldern des östlichen Nordamerikas, die das natürliche Gleichgewicht nachhaltig veränderte.

Verfolgung und Bejagung der Wandertaube

wandertaube jagd Ectopistes migratorius
Zeitgenössische Darstellung einer Wandertaubenjagd in Louisiana, USA, aus den 1870er-Jahren. (© Smith Bennett [1], Public domain, via Wikimedia Commons)

Die Wandertaube war über Jahrhunderte eine der am stärksten bejagten Vogelarten Nordamerikas und diente als wichtige Nahrungsquelle. Schon die indigenen Völker jagten die Tauben in großem Umfang, achteten dabei aber darauf, keine adulten Vögel zu töten, die mit der Aufzucht der Jungen beschäftigt waren, um den Fortbestand der Brut nicht zu gefährden. Gejagt wurde oft nachts, indem man die Vögel mit langen Stöcken aus den Nestern schlug. Auch der Einsatz von Netzen war gängig und führte zu Fängen von hunderten Tauben auf einmal. Oft reichte es sogar, Stöcke oder Steine auf niedrig fliegende Vögel zu werfen, um sie zu erlegen. Das Fett der Tauben war so wertvoll, dass es von den indigenen Völkern sogar als Butterersatz genutzt wurde.

Mit der Ankunft der europäischen Siedler änderte sich die Jagd grundlegend. Während die indigene Bevölkerung nachhaltige Jagdmethoden praktizierte, führte die Kolonisierung zu einer radikalen, kommerzialisierten Bejagung. Der US-amerikanische Ornithologe John James Audubon berichtete von einer großangelegten Jagd im Jahr 1813, als die Bevölkerung am Ohio River tagelang ununterbrochen auf riesige vorbeiziehende Schwärme schoss:

„Die Menschen waren alle bewaffnet, und die Ufer des Ohio waren voller Männer und Jungen, die ununterbrochen auf die Wandertauben schossen, die beim Überqueren des Flusses tiefer flogen. So wurden unzählige Vögel getötet. Eine Woche oder länger ernährte sich die Bevölkerung von nichts anderem als Taubenfleisch und sprach über nichts anderes als Tauben.“

The Auk, the Dodo, and the Oryx. Vanishing and Vanished Creatures. S. 154f. 1965 R. Silverberg

Bereits 1565 berichtete der französische Entdecker René Laudonnière von der Tötung von 10.000 Tauben innerhalb weniger Wochen in Fort Caroline. Im 19. Jahrhundert verschärfte sich die Jagd dramatisch. Wandertauben galten als einfache Beute und wurden in großen Mengen gefangen und getötet. Ihr Fleisch diente als billige Nahrungsquelle für die wachsende Bevölkerung der Vereinigten Staaten, und mit der Kommerzialisierung der Jagd entwickelte sich die Bejagung der Wandertaube nach 1860 zu einem regelrechten Berufszweig. Händler lieferten Tonnen von Taubenfleisch an die Städte, wo es nicht nur als Nahrungsmittel, sondern auch als Schweinefutter verkauft wurde.

Eine Meldung der Indiana State Sentinel aus dem Jahr 1857 verdeutlicht das Ausmaß der Jagd:

Wandertaube Zeitungsmeldung 1857
„Sieben Tonnen Wandertauben wurden am 27. April mit der Erie Railroad aus den Bezirken Steuben und Alleghany nach New York City gebracht. Seit dem ersten April wurden fünfundsechzig Tonnen auf dieser Strecke transportiert.“
Indiana State Sentinel, Public domain, via Wikimedia Commons)

Neben dem Fleisch wurden auch andere Teile der Wandertaube vermarktet. In The Doomsday Book of Animals (1981) beschreibt David Day, wie sogar die Mägen, Eingeweide und der Dung der Vögel als Heilmittel für verschiedene Krankheiten wie Gallensteine, Magenschmerzen, Ruhr, Koliken, entzündete Augen, Fieber und Epilepsie verkauft wurden. Die Daunen und Federn der Wandertauben fanden zudem Verwendung in Kissen und Steppdecken, und es bestand auch ein Markt für lebende Tauben.

Neben der kommerziellen Jagd wurde die Wandertaube auch in Schießwettbewerben als Ziel verwendet. Beim sogenannten „Trap-Shooting“ wurden die Tauben aus Fallen freigelassen und die Teilnehmer wetteiferten darum, möglichst viele Vögel abzuschießen. Solche Wettbewerbe waren so populär, dass die Sieger oft tausende Vögel erlegten, wobei die Prämie manchmal erst bei über 30.000 getöteten Tauben ausgezahlt wurde.

Vielfältige und effiziente Jagdmethoden

Wandertaube Netz
Zeitgenössische Darstellung aus dem Jahr 1829, die ein Wandertauben-Netz zum Fangen der Vögel zeigt. (© James Pattison Cockburn, Public domain, via Wikimedia Commons)

Die Jagd auf die Wandertaube war ebenso vielfältig wie effizient. Neben dem Einsatz von Gewehren kamen riesige Netze, Schwefeldämpfe, Keulen und lange Stangen zum Einsatz. Eine Familie aus Massachusetts soll in einer einzigen Nacht 1.200 Vögel erlegt haben, indem sie die Tauben mit Stöcken von ihren Schlafplätzen schlug. Besonders verheerend waren Tunnelnetze, die bis zu 3.500 Vögel auf einmal fangen konnten. Eine weitere Methode bestand darin, Lockvögel – sogenannte „Stool Pigeons“ – einzusetzen. Diese Tauben hatten die Augen zugenäht, damit sie nicht fliehen konnten, und wurden an Stangen gebunden, um vorbeiziehende Schwärme anzulocken. Auch Salz diente als Köder, da Tauben gezielt nach Salzquellen suchten. Manche Fallensteller nutzten sogar alkoholgetränktes Getreide, um die Vögel zu betäuben und so leichter fangen zu können.

Auch das Fällen von Bäumen war eine gängige Methode, um an die brütenden Tauben zu gelangen. Ganze Waldgebiete wurden abgeholzt, um Nester und Jungvögel zu erbeuten. Dabei fällte man die Bäume oft so, dass sie auf andere Nistbäume stürzten und damit gleich mehrere Nester zerstörten. Eine besonders drastische Methode war es, Bäume in Brand zu setzen, um die Tauben zu vertreiben oder die Jungvögel aus den Nestern zu werfen. Schwefeldämpfe wurden ebenfalls unter den Nistbäumen verwendet, um die Tauben zu ersticken und sie so leichter fangbar zu machen.

Mit der Einführung von Telegraphen zur schnellen Verbreitung von Informationen über Nistplätze und Eisenbahnen zum Transport der gefangenen Tauben nahm die kommerzielle Jagd im 19. Jahrhundert gewaltig zu. In den 1850er-Jahren wurden riesige Mengen an Tauben in den Osten der USA verschickt, wo sie in den Städten für nur fünf Cent pro Vogel verkauft wurden. Im Jahr 1851 wurden allein in Plattsburgh, New York, rund 1,8 Millionen Tauben an städtische Märkte geliefert. Die Jagd wurde zu einem lukrativen Geschäft, und professionelle Taubenfänger, sogenannte „pigeoners“, folgten das ganze Jahr über den Schwärmen, um die Vögel zu fangen und zu verkaufen.

Als der Markt schließlich von Taubenfleisch überflutet war und die Preise drastisch fielen, wurden die Vögel oft lebendig gehalten, bis die Nachfrage wieder stieg. Die schlechten Haltungsbedingungen führten jedoch häufig dazu, dass viele Tauben in den Käfigen verhungerten oder starben, bevor sie verkauft werden konnten.

Etta S. Wilson, die als junges Mädchen die Verfolgung der Wandertaube miterlebte, erinnert sich in den 1930er-Jahren an das grausame Ausmaß der Jagd:

„Tag und Nacht ging das grässliche Geschäft weiter. Überall lag Vogelleim und bedeckte in einer dicken Schicht den Boden. Töpfe, in denen Schwefel verbrannt wurde, spien an verschiedenen Stellen ihre tödlichen Dämpfe aus, an denen die Vögel erstickten. Erdgeister in menschlicher Gestalt (…) gingen mit Stöcken und Keulen herum und schlugen Vogelnester herunter, während andere Bäume fällten und die überladenen Äste abbrachen, um die Jungvögel einzufangen. (…) Schweine kamen zu dem Nistplatz, um sich von den heruntergefallenen Vögeln zu mästen (…). Von den unzähligen Tausenden zermalmter, totgeschlagener, heruntergefallener Vögel konnten nur vergleichsweise wenige aufgelesen werden, und doch wurden in fast ununterbrochener Folge Wagenladungen aus dem Nistplatz herausgefahren, während der Boden immer noch mit lebenden, sterbenden, toten und verwesenden Vögeln bedeckt war.“

Der Gesang des Dodo. S. 411. 2001. D. Quammen

Trotz des offensichtlichen Rückgangs der Bestände ging die Jagd bis in die 1890er-Jahre weiter. Als Taubenfleisch aufgrund des Überangebots nahezu wertlos wurde, ergriff kaum jemand Maßnahmen zum Schutz der Tiere.

Es wurden immer weniger…

Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die Wandertaube der häufigste Vogel Nordamerikas und eine der zahlreichsten Vogelarten weltweit. Doch in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts setzte ein dramatischer Rückgang ein, der schließlich zum Aussterben der Art führte. Bis heute bleibt dieser rasante Einbruch teilweise rätselhaft. Obwohl die Art bereits im 17. und 18. Jahrhundert entlang der Atlantikküste durch intensive Bejagung dezimiert worden war, galten die Bestände im Mittleren Westen und um die Großen Seen bis Mitte des 19. Jahrhunderts als stabil.

wandertaube Audubon
Zeichnung eines Wandertauben-Pärchens von John James Audubon. Zwischen Männchen (unten) und Weibchen (oben) bestand ein deutlicher Geschlechtsdimorphismus in Größe und Färbung. (© John James Audubon (1785-1851). Public domain, via Wikimedia Commons

Ab den 1870er-Jahren wurde der Schwund der Population jedoch unübersehbar. Vor allem die letzten großen Nistkolonien wurden Ziel massiver Jagd. In Wisconsin brütete 1871 fast die gesamte verbleibende Population von etwa 135 Millionen Vögeln – nur noch ein Zehntel des einst geschätzten Bestands. Trotzdem ging die Jagd ungebremst weiter: Millionen Tauben wurden getötet und auf Märkten verkauft. In der letzten großen Brutkolonie in Petoskey, Michigan, wurden 1878 täglich bis zu 50.000 Vögel über fast fünf Monate hinweg erlegt.

David Day berichtet, dass 1896 nur noch etwa 250.000 Wandertauben übrig waren. Eine der letzten großen Nistscharen sammelte sich im April dieses Jahres im Wald des Green River nahe Bowling Green, Ohio. Dank Telegraph und Eisenbahn wussten Jäger schnell Bescheid und strömten aus allen Landesteilen herbei. Das Ergebnis war verheerend: 200.000 Tauben wurden getötet, weitere 40.000 verstümmelt oder weggeworfen, und unzählige Küken, die zu jung zum Einsammeln waren, verendeten oder wurden Raubtieren überlassen. Die gesamte Jagdbeute wurde in Güterwaggons verfrachtet, um sie in den Osten zu den Märkten zu transportieren. Doch die Züge entgleisten, die Kadaver verfaulten in der heißen Sonne, und schließlich wurden die 200.000 toten Vögel in eine Schlucht gekippt.

Während die Population weiter schrumpfte, versuchten die wenigen überlebenden Tauben, neue Brutgebiete zu finden. Doch Jäger verfolgten sie erbarmungslos, töteten die erwachsenen Vögel und verhinderten, dass die Tiere ihre Jungen aufziehen konnten. In den 1880er-Jahren gab es nur noch wenige Brutkolonien mit zehntausenden Vögeln, doch der Bruterfolg blieb aus. Die Population schwand rapide, und der letzte große Schwarm wurde 1888 gesichtet. Ab den 1890er-Jahren waren Gruppen von mehr als hundert Vögeln eine Seltenheit, und nach 1895 galten Sichtungen von nur zehn Tauben bereits als außergewöhnlich.

Schutzmaßnahmen für die Wandertaube

Mehrere Bundesstaaten erließen Gesetze zur Regulierung des Handels mit Wandertauben, doch diese waren oft inkonsequent, unklar formuliert, wurden kaum durchgesetzt oder kamen schlichtweg zu spät. Die großen Jagdunternehmen führten ihre Aktivitäten ungehindert weiter. im Jahr 1857 lehnte ein Ausschuss in Ohio den Vorschlag für ein Schutzgesetz ab und erklärte:

„Die Wandertaube braucht keinen Schutz. Das Tier, das von unglaublicher Fruchtbarkeit ist, die endlosen Wälder des Nordens als Brutstätte zur Verfügung hat und auf der Suche nach Futter Hunderte von Kilometern zurücklegt, ist heute hier und morgen dort; keine normale Zerstörung kann sie dezimieren oder den Myriaden, die jährlich erzeugt werden, erkennbare Verluste zufügen.“

Der Gesang des Dodo. S. 412. 2001. D. Quammen

In den 1870er-Jahren regte sich zunehmend öffentlicher Protest gegen die brutalen Jagdmethoden, doch diese Proteste hatten kaum Einfluss. 1897 wurde in Michigan ein Gesetz verabschiedet, das das Fangen von Tauben in einem Umkreis von drei Kilometern um Nistplätze verbieten sollte, sowie eine zehnjährige Schonzeit für die Wandertauben forderte. Ähnliche Maßnahmen wurden in Pennsylvania ergriffen, jedoch weitgehend ignoriert.

H. B. Roney, der das Massaker in Petoskey 1878 miterlebt hatte, führte Kampagnen zum Schutz der Tauben an. Doch seine Bemühungen stießen auf Widerstand, und ihm wurde vorgeworfen, die Schwere der Situation zu übertreiben.

Wie konnte die häufigste Vogelart der Welt aussterben?

Der US-amerikanische Autor Robert Silverberg fasste das Verschwinden der Wandertaube 1965 treffend zusammen:

„Im Jahr 1800 betrug die Bevölkerung der Vereinigten Staaten 5.927.000, während die Zahl der Wandertauben in die Milliarden ging. Bis 1900 gab es 76.094.000 Amerikaner und praktisch keine Wandertauben mehr. Innerhalb dieses Jahrhunderts wurde eine Art, die 25 bis 40 Prozent der gesamten Vogelpopulation der Vereinigten Staaten ausmachte, ausgelöscht.“

The Auk, the Dodo, and the Oryx. Vanishing and Vanished Creatures. S. 158. 1965 R. Silverberg
Wandertaube im Natural History Museum in London
Von der Wandertaube existieren heute in Museen mehr als 1.500 Bälge und Präparate. Es wird angenommen, dass sie die am häufigsten in Museen vertretene ausgestorbene Art der jüngeren Geschichte ist. (© Doreen Fräßdorf, fotografiert im Natural History Museum in London, England, 2024)

Wie konnte es sein, dass die ehemals häufigste Vogelart der Welt innerhalb von weniger als 100 Jahren ausgestorben ist? Viele waren verblüfft über das plötzliche Verschwinden einer Spezies, von der man dachte, sie könne aufgrund ihrer enormen Anzahl gar nicht aussterben. Diese Verwunderung führte zu einer Vielzahl von abenteuerlichen Theorien. Einige glaubten, ein Priester habe die Tauben verflucht, weil sie seiner Gemeinde Schaden zugefügt hatten. Andere vermuteten, dass sie massenhaft im Golf von Mexiko oder im Atlantischen Ozean ertranken; angeblich seien sogar an Russlands Küsten Tauben angespült worden. Wieder andere spekulierten, dass die Vögel nach Chile, Peru oder Bolivien geflüchtet seien, um der Bejagung zu entkommen.

Der Ornithologe Arlie William Schorger widerlegte in The Passenger Pigeon: Its Natural History and Extinction (1955) viele dieser fantasievollen Theorien. Stattdessen führte er plausiblere Gründe für das Aussterben an, darunter Waldbrände, Epidemien wie die Newcastle-Krankheit, die Abholzung der Laubwälder, die als Nahrungsgrundlage dienten, sowie klimatische Veränderungen. Hauptsächlich jedoch machte er – wie viele andere Wissenschaftler – die übermäßige Bejagung verantwortlich. Durch ihre große Anzahl war die Jagd auf die Wandertauben besonders einfach und lukrativ.

Die Geschichte der Wandertaube und ihr Schwarmverhalten erinnern an das Schicksal der Rocky-Mountain-Heuschrecke, die ebenfalls einst in großer Zahl in Nordamerika lebte. Auch sie war einmal so zahlreich, dass ihr Aussterben unmöglich erschien, und doch verschwand sie im frühen 20. Jahrhundert.

Lebensraumverlust und Bejagung

Obwohl John James Audubon 1813 das massenhafte Abschlachten der Wandertauben in Kentucky beobachtete, glaubte er – wie viele Zeitgenossen – nicht, dass die Art allein durch Bejagung aussterben könnte:

„Personen, die mit diesen Vögeln nicht vertraut sind, könnten natürlich annehmen, dass solch ein schreckliches Gemetzel die Art bald auslöschen würde. Doch ich bin durch lange Beobachtung zu dem Schluss gekommen, dass nur die allmähliche Verringerung unserer Wälder ihren Rückgang bewirken kann.“

The Auk, the Dodo, and the Oryx. Vanishing and Vanished Creatures. S. 157. 1965 R. Silverberg

Der argentinische Ornithologe Enrique H. Bucher argumentierte 1992 in seiner Studie The Causes of Extinction of the Passenger Pigeon, dass nicht primär die Bejagung, sondern der Verlust von Lebensraum das Aussterben der Wandertaube verursachte. Er stützte diese These darauf, dass die Wandertaube von Trauertauben (Zenaida) abstamme, die ursprünglich in den offenen Graslandschaften Nordamerikas lebten und sich später an Waldlebensräume anpassten. Diese sekundäre Anpassung könnte die Art besonders anfällig für Veränderungen in diesen Wäldern gemacht haben.

Durch den Verlust von Waldflächen wurden die großen Brutkolonien der Wandertauben destabilisiert, was ihr soziales System beeinträchtigte. Die Vögel waren auf das Leben in dichten Schwärmen angewiesen, und als die Population abnahm, zerbrachen diese Strukturen, was die Fortpflanzung erschwerte. Der Verlust ihres Lebensraums durch die Rodung von Wäldern für landwirtschaftliche Flächen und Städte vergrößerte diese Probleme zusätzlich.

Viele Wissenschaftler gehen davon aus, dass eine Kombination aus Bejagung und Lebensraumverlust zum Verschwinden der Wandertaube führte. Zwischen 1800 und 1820 verdoppelte sich die Bevölkerung der USA, und bis 1845 erreichte sie 20 Millionen. 1860 lebten bereits 30 Millionen Menschen in den USA, und bis 1870 stieg die Zahl auf 49 Millionen. Um Platz für diese wachsende Bevölkerung zu schaffen, wurden Städte ausgebaut, Eisenbahnen durchzogen das Land, und Wälder wurden gerodet. Zwischen 1850 und 1910 wurden etwa 728.000 Quadratkilometer Wald in Ackerland umgewandelt. Auch wenn es im Osten Nordamerikas noch große Waldgebiete gab, reichten diese möglicherweise nicht aus, um die riesigen Populationen der Wandertaube langfristig zu erhalten.

Julian Hume weist in seinem Buch Extinct Birds (2017) darauf hin, dass die Wandertaube eng mit dem Laubwaldgebiet im Osten der USA und Kanadas verbunden war und sich trotz ihrer weiten Verbreitung nie in anderen Waldtypen ansiedelte. Auch ihre Brutgebiete wurden durch das Vorkommen von Buchen und Eichen begrenzt. Hume vermutet, dass die Wälder im Westen Nordamerikas, die der östlichen Vegetation zwar ähnlich waren, bereits von der verwandten Schuppenhalstaube (Patagioenas fasciata) besiedelt wurden, was eine Ausbreitung der Wandertaube in diese Gebiete verhinderte.

Als Schwarm oder gar nicht

Der Biologe Tim Halliday stellte 1980 in seiner Studie The Extinction of the Passenger Pigeon die Bejagung als alleinigen Grund für das Aussterben der Art in Frage:

„Das Rätselhafte am Untergang der Wandertaube besteht darin, dass sich der Verfall der Spezies in den letzten Jahren ihrer Existenz mit einer Geschwindigkeit fortsetzte, für die allein die Tatsache, dass ihr von den Menschen nachgestellt wurde, als Erklärung nicht ausreicht.“

The Extinction of the Passenger Pigeon. Ectopistes migratorius and its Relevance to Contemporary Conservation. 1980. T. R. Halliday

Halliday argumentierte, dass der rapide Verfall der Population in den letzten Jahren der Wandertaube zu schnell geschah, als dass dies allein durch die Bejagung erklärt werden könnte. Er schloss auch den Verlust von Lebensraum als alleinige Ursache aus, da es zum Zeitpunkt des dramatischen Rückgangs noch ausreichend große Waldgebiete mit Eichen und Buchen gab. Stattdessen vermutete Halliday, dass soziale Faktoren eine entscheidende Rolle spielten: Die Größe der Kolonien und der Fortpflanzungserfolg standen in engem Zusammenhang, und obwohl die Art noch relativ häufig war, gab es nicht genug Nachwuchs, um die Verluste auszugleichen.

Wandertaubenschwarm
Darstellung eines Wandertaubenschwarms in The Later Flights of the Passenger Pigeon (1920).
Frank Bond, Public domain, via Wikimedia Commons)

Halliday vertrat die Ansicht, dass die Wandertaube als Art entweder in massiven Schwärmen existieren musste oder gar nicht. Als die Populationen aufgrund von Bejagung und Verfolgung unter einen kritischen Schwellenwert sanken, der für das Überleben der Art notwendig war, brach ihr soziales Gefüge zusammen. Dies führte zu ineffizienter Nahrungssuche, gestörtem Paarungsverhalten und einem Rückgang des Bruterfolgs. Die Wandertaube starb also aus, weil sie nicht in kleinen Gruppen überleben konnte und ihre Seltenheit im Widerspruch zu ihrer sozialen Ökologie stand.

Dieser von Schorger beschriebene Schwellenwert, der die Mindestanzahl von Individuen angibt, die für das Überleben einer Art erforderlich ist, wird auch als Allee-Effekt bezeichnet. In seinem Beitrag Passenger Pigeon/Allee Effect (2024) erklärt der Ökologe Kevin T. Shoemaker, dass der Allee-Effekt bei der Wandertaube, die eine stark gesellige und soziale Art war, eine entscheidende Rolle spielte. Mit dem drastischen Rückgang der Populationen durch Jagd und Abholzung brachen ihre sozialen Strukturen zusammen. Die Tauben waren nicht mehr in der Lage, sich effektiv fortzupflanzen oder sich vor Raubtieren zu schützen. Dieser negative Kreislauf beschleunigte das endgültige Aussterben der Wandertaube.

Natürliche Schwankungen in der Population der Wandertaube

Eine 2014 von der National Taiwan Normal University durchgeführte Studie zeigte, dass die Wandertaubenpopulation bereits vor der Ankunft der Europäer in Nordamerika starken Schwankungen unterworfen war. Diese natürlichen Fluktuationen machten die Art letztlich anfälliger für menschliche Eingriffe wie intensive Jagd und den Verlust ihres Lebensraums. Durch die Analyse antiker DNA (aDNA) fanden die Wissenschaftler heraus, dass die effektive Population der Wandertaube im Verlauf der letzten Million Jahre deutlich kleiner war als die im 19. Jahrhundert geschätzte Zahl von drei bis fünf Milliarden Vögeln. Die Population erlebte wiederholte drastische Anstiege und Rückgänge, vermutlich bedingt durch klimatische Veränderungen und Schwankungen im Nahrungsangebot.

Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass die Wandertaube während Phasen niedriger Populationszahlen besonders anfällig für menschliche Störungen wurde. Als im 19. Jahrhundert die intensive Bejagung und Abholzung mit einem natürlichen Populationstief der Art zusammenfiel, war sie nicht mehr in der Lage, sich zu erholen. Die sozialen Verhaltensweisen der Wandertauben, die auf große Schwärme und Kolonien angewiesen waren, um erfolgreich zu brüten und sich vor Raubtieren zu schützen, brachen zusammen, sobald die Population unter eine kritische Größe fiel.

Der Schweizer Zoologe Vinzenz Ziswiler stellte in Bedrohte und ausgerottete Tiere (1965) die Theorie auf, dass das soziale Brutverhalten der Wandertauben eine entscheidende Rolle spielte:

„Bei sozial brütenden Tieren wie der Wandertaube, welche oft in mehreren Hundert Exemplaren auf einem Baum brütete, wirkt die Anwesenheit von Artgenossen stimulierend auf das Brutgeschäft. Es ist denkbar, dass Einzelpaare überhaupt nicht mehr in Brutstimmung gerieten. Dafür spricht die Tatsache, dass es nicht gelang, von einzelnen Paaren in Gefangenschaft Nachkommen zu erhalten.“

Bedrohte und ausgerottete Tiere. 1965. V. Ziswiler

Die Hypothese deutet darauf hin, dass Wandertauben für eine erfolgreiche Fortpflanzung auf die dichte Anwesenheit anderer Artgenossen angewiesen waren, was ihr Überleben in Zeiten abnehmender Populationen zusätzlich erschwerte.

Krankheiten als mögliche Ursache für das Aussterben der Wandertaube

William W. Thompson beschreibt in seinem Buch The Passenger Pigeon aus dem Jahr 1922 eine Krankheit, die die letzten Bestände der Wandertauben dezimiert haben soll. Diese Krankheit, die er als „Krebsgeschwür“ bezeichnet, zeigte sich als gelblich-weißer Belag im Maul der Vögel, der ihnen das Fressen unmöglich machte. Sowohl wilde als auch in Gefangenschaft lebende Tauben sollen in den 1880er-Jahren betroffen gewesen sein.

Wandertaube im Naturkundemuseum in Paris
Schätzungen aus dem 19. Jahrhundert gehen davon aus, dass Wandertauben 25 bis 40 Prozent der gesamten Vogelpopulation der Vereinigten Staaten ausmachten. (© Doreen Fräßdorf, fotografiert im Muséum national d’histoire naturelle in Paris, Frankreich, 2024)

Die von Thompson beschriebenen „Krebsgeschwüre“ könnten auf eine Erkrankung namens Trichomoniasis hinweisen, die durch den Parasiten Trichomonas gallinae ausgelöst wird. Diese Krankheit betrifft vor allem Tauben und Greifvögel und führt zu schmerzhaften Geschwüren im Mund- und Rachenraum, die das Schlucken und Fressen erschweren und oft tödlich enden. Es gibt zwar keine konkreten Beweise, dass die Wandertauben von dieser Erkrankung betroffen waren, doch könnte Trichomoniasis einer ohnehin bereits stark reduzierten Population den endgültigen Todesstoß versetzt haben.

Eine weitere mögliche, aber weniger überzeugende Hypothese ist die Newcastle-Krankheit, eine hochansteckende Viruserkrankung, die bei Vögeln oft schwere Verluste verursacht. Da die Wandertaube in riesigen, dichten Schwärmen lebte, hätte eine solche Krankheit sich leicht in den Kolonien ausbreiten können und verheerende Folgen gehabt. Dennoch wird die Rolle der Newcastle-Krankheit im Vergleich zu den Hauptursachen wie übermäßige Bejagung und Lebensraumverlust als gering und spekulativ eingeschätzt. Es gibt keine eindeutigen Beweise dafür, dass die Newcastle-Krankheit maßgeblich zum Aussterben der Wandertaube beigetragen hat.

Die Internationale Union zur Bewahrung der Natur (IUCN) betont, dass die genaue Ursache für das Aussterben der Wandertaube nur schwer zu bestimmen ist. Zu den bedeutendsten Faktoren zählen jedoch die großflächige Abholzung der Laubbäume, die den Vögeln als Hauptnahrungsquelle dienten, sowie der Ausbau des Eisenbahn- und Telegrafennetzes. Letzteres ermöglichte es Jägern, Nistkolonien effizienter zu lokalisieren und die gefangenen Vögel rasch auf die Märkte zu transportieren. Zusätzlich wird die übermäßige Bejagung, der Zusammenbruch der sozialen Strukturen innerhalb der Schwärme und die Newcastle-Krankheit als weitere Faktoren genannt, die zum schnellen Verschwinden der Art beitrugen.

Aussterben als Kettenreaktion

Das Aussterben der Wandertaube im Jahr 1914 löste eine Kettenreaktion aus, die auch das Ende der Wandertaubenmilbe bedeutete – einem Parasiten, der vollständig von seinem Wirt abhängig war. Da diese Milbe ausschließlich auf der Wandertaube lebte, konnte sie nach dem Verschwinden ihres Wirts nicht überleben. Dieses Phänomen verdeutlicht eine oft unterschätzte Dynamik: Wenn eine Schlüsselart ausstirbt, verschwinden auch viele abhängige Arten, die in enger Wechselbeziehung mit dieser Art leben.

Besonders betroffen von solchen Kettenreaktionen sind spezialisierte Parasiten, die nur auf einem bestimmten Wirt leben. In solchen Fällen reicht der Verlust einer einzigen Art, um das Überleben mehrerer anderer zu gefährden. Die Wandertaubenmilbe ist eines der wenigen gut dokumentierten Beispiele für diese Art von Abhängigkeit. Über ihre Biologie ist nur wenig bekannt, außer dass sie ausschließlich auf die Wandertaube spezialisiert war, was ihr Überleben nach dem Aussterben des Wirts unmöglich machte.

Wann ist die Wandertaube ausgestorben?

Während die Wandertaube in den frühen 1880er-Jahren noch in Schwärmen von Millionen Tieren nistete, war es 1888 bereits eine Seltenheit, mehr als 175 Vögel auf einmal zu sehen. Innerhalb weniger Jahrzehnte schrumpfte ihre Population dramatisch, von schätzungsweise drei Milliarden auf null.

Lange Zeit ging man davon aus, dass die letzte wildlebende Wandertaube, ein Weibchen, im März 1900 im US-Bundesstaat Ohio erlegt wurde. Der Schriftsteller Joel Greenberg jedoch verweist in seinem Buch A Feathered River Across the Sky (2014) auf einen späteren Fall: Er stieß auf einen Bericht über ein Männchen, das im April 1902 in der Nähe von Laurel, Indiana, erschossen und anschließend zerstört wurde. Der letzte offiziell bestätigte Wildvogel war jedoch ein Männchen, das im März 1901 bei Oakford, Illinois, erlegt und ausgestopft wurde. Dieses Exemplar befindet sich heute in der Millikin University in Decatur, Illinois.

Martha, die letzte Wandertaube
Der Endling Martha, die letzte Wandertaube, wurde an das Smithsonian Institute in Washington gespendet. Seit 2015 wird sie wieder im Smithsonian’s National Museum of Natural History ausgestellt. (© See page for author, Public domain, via Wikimedia Commons)

Dieter Luther vermutet in seinem Buch Die ausgestorbenen Vögel der Welt (1986), dass die Wandertaube in freier Wildbahn wahrscheinlich zwischen 1907 und 1909 ausstarb, da es in dieser Zeit mehrere unbestätigte Sichtungen gab. Auch der amerikanische Ornithologe Alexander Wetmore berichtete in Game Birds of Prairie, Forest and Tundra (1936), dass er 1905, als er knapp 20 Jahre alt war, ein Paar fliegender Wandertauben in Kansas gesichtet habe. Die meisten Sichtungen nach 1901 werden jedoch als Verwechslungen mit Carolina- oder Trauertauben (Zenaida macroura) gewertet.

Der Zoo von Cincinnati, einer der ältesten Zoos in den USA, hielt Wandertauben seit seiner Eröffnung im Jahr 1875. Der britische Ornithologe Julian P. Hume schreibt in Extinct Birds (2017), dass ursprünglich eine Schar von 26 Vögeln – 13 Weibchen und 13 Männchen – in den Zoo gelangte. Während ihrer Zeit dort zogen die Vögel 23 Jungtiere auf. Im Jahr 1908 waren es dann nur noch drei Tauben, die zu alt für die Fortpflanzung waren, zwei Männchen und ein Weibchen. Die beiden männlichen Vögel starben 1909 und 1910.

In den Jahren 1909 und 1910 wurde ein Belohnungsgeld von 1.500 Dollar für den Nachweis eines Brutpaares ausgesetzt, leider ohne Erfolg. Die letzte Wandertaube – ihr Name war Martha – starb im Alter von 29 Jahren am 1. September 1914.

Marthas Körper wurde in einem Eisblock eingefroren und ins Smithsonian Institute nach Washington gebracht, um ihn dort zu untersuchen. Obwohl zuvor Milliarden von Wandertauben getötet wurden, widmete kaum jemand der Anatomie, dem Verhalten oder der Ökologie der Vögel Aufmerksamkeit. Martha wurde gehäutet, seziert, fotografiert und letztendlich ausgestopft.

Wandertaube: Verhalten und Ökologie

Die Wandertaube spielte eine entscheidende Rolle im Ökosystem der nordamerikanischen Wälder. Diese nomadische Vogelart ernährte sich hauptsächlich von Mast, wie Eicheln und Kastanien, und beeinflusste damit die Verbreitung und das Wachstum bestimmter Baumarten.

Ectopistes migratorius im National Museum in Prag
Das Exponat der weiblichen Wandertaube gelangte 1953 aus dem Gymnasium in Prachatice, Tschechien, ins Nationalmuseum nach Prag. (© Doreen Fräßdorf, fotografiert im National Museum in Prag, Tschechien)

In einer Studie untersuchten die Biologen Joshua W. Ellsworth und Brenda C. McComb 2003 den Einfluss der Wandertauben auf die Wälder des östlichen Nordamerikas vor der europäischen Besiedlung. Sie fanden heraus, dass die Taubenschwärme durch das Abbrechen von Ästen und die Ablagerung von Nährstoffen aus ihrem Kot erhebliche Störungen in den Wäldern verursachten. Diese könnten die Häufigkeit und Intensität von Waldbränden erhöht haben. Darüber hinaus vermuten die Forscher, dass der Verzehr von Eicheln die Dominanz der Weißeiche gefördert haben könnte. Nach dem Aussterben der Wandertaube im frühen 20. Jahrhundert trug dies vermutlich zur Ausbreitung der nördlichen Roteiche bei. Aufgrund ihrer tiefgreifenden Auswirkungen auf die Wälder gilt die Wandertaube als Schlüsselart, deren Verschwinden eine bedeutende ökologische Lücke hinterließ.

Das Aussterben der Wandertaube führte auch zu weiteren ökologischen Veränderungen. Beispielsweise nahm die Population der Weißfußmaus (Peromyscus leucopus), die ebenfalls Eicheln als Nahrungsquelle nutzte, nach dem Verschwinden der Tauben erheblich zu. Der Ökologe David E. Blockstein spekulierte 1998 in seinem Artikel Lyme Disease and the Passenger Pigeon?, dass das Verschwinden der Wandertaube zur stärkeren Verbreitung der von Zecken übertragenen Lyme-Borreliose beigetragen haben könnte. Da Weißfußmäuse als Erregerreservoir für Borrelia burgdorferi, den Erreger der Lyme-Borreliose, fungieren, könnte die Zunahme ihrer Population nach dem Aussterben der Wandertauben auch die Verbreitung der Krankheit begünstigt haben. Mit mehr verfügbaren Nahrungsressourcen für die Mäuse stieg ihre Zahl, was möglicherweise die Ausbreitung der Lyme-Borreliose in der Region förderte.

Die Lautäußerungen der Wandertaube: Von glockenähnlich bis krächzend

Die Geräuschkulisse eines Wandertaubenschwarms wurde oft als ohrenbetäubend beschrieben, meilenweit hörbar und geprägt von lauten, rauen, unmelodischen Rufen. Neben diesen lauten Stimmen waren auch glucksende, zwitschernde und gurrende Töne zu hören, die eher aus tiefen Lauten bestanden als einem echten Gesang. Während des Nestbaus gaben die Vögel krächzende Geräusche von sich, beim Paaren hingegen glockenähnliche Laute. In Gefahrensituationen riefen einzelne Tauben Alarm, woraufhin der gesamte Schwarm die Warnrufe aufgriff und gemeinsam aufflog.

Im Jahr 1911 veröffentlichte der amerikanische Verhaltensforscher Wallace Craig eine detaillierte Untersuchung der Gesten und Rufe der Wandertaube, basierend auf Beobachtungen in Gefangenschaft. Er identifizierte verschiedene Rufe, darunter ein einfaches, raues „keck“, das der Kontaktaufnahme diente, sowie ein häufigeres und variableres „kee-kee-kee“, das als Warnruf verwendet wurde. Ein weiches „keeho“ nutzten die Vögel zur Kommunikation mit ihrem Partner. Craig vermutete, dass die lauten und durchdringenden Rufe der Wandertaube auf ihr Leben in dichten Kolonien zurückzuführen waren, in denen nur die lautesten Töne wahrgenommen wurden.

Sie legte nur ein Ei pro Brut

Das Brutverhalten der Wandertaube war eng mit dem sozialen Leben in riesigen Kolonien verknüpft. Diese Kolonien, die oft als „Städte“ bezeichnet wurden, beherbergten Millionen von Vögeln und erstreckten sich über hunderte bis tausende Hektar. Die Nester wurden dicht an dicht in den Bäumen angelegt, oft mehr als 50 Nester pro Baum. Eine Kolonie bestand mehrere Wochen, und der Nestbau begann im Frühjahr, abhängig von der Region zwischen März und Mai.

Ectopistes migratorius Ei
Die Wandertaube legte lediglich ein Ei pro Brut und konnte so maximal einen Jungvogel pro Jahr aufziehen. (© Muséum de Toulouse, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons)

Die Nester wurden aus einfachen Zweigen gebaut, die das Männchen sammelte und dem Weibchen überreichte, welches das Nest fertigstellte. Der Bau war synchronisiert und dauerte in der Regel zwei bis vier Tage. Die Nester befanden sich in Höhen von zwei bis 20 Metern und waren oft so flach, dass das Ei von unten sichtbar war.

Pro Brut legte die Wandertaube in der Regel nur ein einzelnes ovales, weißes Ei. Beide Elternteile beteiligten sich an der Brutpflege: Der männliche Vogel übernahm tagsüber die Brut, das Weibchen nachts. Die Brutdauer betrug zwölf bis 14 Tage, und nach dem Schlüpfen wurden die Küken schnell groß. Innerhalb von etwa zwei Wochen erreichten sie das Gewicht der Eltern. In dieser Zeit wurden sie von beiden Elternteilen mit Kropfmilch gefüttert, einer nahrhaften Substanz, die in ihren Kropfdrüsen gebildet wird. Nach 13 bis 15 Tagen verließen die Eltern das Nest und das Küken war auf sich allein gestellt.

Es erscheint paradox, dass die Wandertaube trotz ihrer riesigen Schwärme nur ein Ei pro Brut legte. Während andere Arten durch eine hohe Fortpflanzungsrate ihre Bestände aufrechterhalten, war die Wandertaube aufgrund des Mangels an natürlichen Feinden – abgesehen von Greifvögeln wie Habichten und Adlern – so zahlreich. Sie lebte in einem nahezu unerschöpflichen Lebensraum mit reichlich Nahrung. Doch als die Menschen begannen, massenhaft Tauben zu jagen, konnte die Art die Verluste mit ihrer geringen Fortpflanzungsrate nicht mehr ausgleichen. Selbst unter optimalen Bedingungen reichte es nicht, um dem dramatischen Rückgang entgegenzuwirken.

Kaum jemand schenkte der Anatomie der Wandertaube Beachtung

Die innere Anatomie der Wandertaube wurde nur selten detailliert beschrieben. Im Jahr 1914 untersuchte der US-amerikanische Ornithologe Robert W. Shufeldt das Skelett eines männlichen Vogels und bemerkte dabei keine auffälligen Abweichungen zu anderen Taubenarten: „Am Skelett dieser Art gibt es nichts Besonderes – tatsächlich ist es ein typisch columbiformes Skelett, wie man es überall finden würde.“

Wandertaubenskelett
Der von Shufeldt 1914 untersuchte männliche Vogel.
Shufeldt, R. W., Public domain, via Wikimedia Commons)

Schließlich nahm sich der britische Ornithologe Julian P. Hume in A Magnificent Flying Machine: The Anatomy of the Passenger Pigeon (2015) die Anatomie der Wandertaube noch einmal vor und entdeckte durchaus markante Unterschiede. Besonders auffällig waren die großen Brustmuskeln, die auf die enorme Flugkraft der Wandertaube hinwiesen. Der Musculus supracoracoideus, der das Schulterblatt, das Gabelbein und das Brustbein verbindet, war mit 33,4 Millimetern relativ groß und besaß robustere Gelenkenden als bei anderen Taubenarten. Auch das Brustbein war im Vergleich zu anderen Tauben besonders groß und kräftig. Die Flügelknochen (Humerus, Radius, Ulna und Carpometacarpus) waren zwar kürzer, aber ebenfalls robuster. Die Beinknochen hingegen entsprachen weitgehend denen anderer Taubenarten.

Taxonomie: Von der Trauer- zur Wandertaube

Die taxonomische Geschichte der Wandertaube reicht bis ins 18. Jahrhundert zurück und ist bemerkenswert komplex. Der schwedische Naturforscher Carl Linnaeus prägte in seiner 1758 erschienenen Systema Naturae den binomischen Namen Columba macroura, den er sowohl für die Wandertaube als auch für die Trauertaube verwendete, da er beide Arten als identisch betrachtete.

Wandertaube im Museum für Tierkunde in Dresden
Im Jahr 1810 schätzte der amerikanische Ornithologe Alexander Wilson die Größe eines einzigen Schwarms von Wandertauben auf 2.230.272.000 Vögel. (© Doreen Fräßdorf, fotografiert im Museum für Tierkunde in Dresden, 2023)

Linnaeus‘ Beschreibung stützte sich auf zwei ältere Werke: Mark Catesbys Natural History of Carolina, Florida and the Bahama Islands (1731–1743), in dem die Wandertaube als Palumbus migratorius bezeichnet wurde, sowie George Edwards‘ 1743 erschienene Beschreibung der Trauertaube. Es wird angenommen, dass Linnaeus nie selbst ein Exemplar dieser Vögel gesehen hat und seine Beschreibung vollständig auf diesen früheren Berichten und Illustrationen basierte. In der 1766er-Ausgabe von Systema Naturae änderte Linnaeus die Bezeichnungen: Die Wandertaube wurde zu Columba migratoria und die Trauertaube zu Columba carolinensis.

Im Jahr 1827 übertrug der britische Naturforscher William John Swainson die Wandertaube von der Gattung Columba in die neu geschaffene, monotypische Gattung Ectopistes, vor allem aufgrund ihrer langen Flügel und des keilförmigen Schwanzes. Dies führte dazu, dass der offizielle Name der Wandertaube zu Ectopistes migratorius geändert wurde. Diskussionen über den korrekten wissenschaftlichen Namen der Art zogen sich bis ins 20. Jahrhundert, bis schließlich 1955 die Internationale Kommission für Zoologische Nomenklatur (ICZN) festlegte, dass migratorius der gültige Artname der Wandertaube ist. Seither trägt die Wandertaube offiziell den Namen Ectopistes migratorius.

Evolution der Wandertaube

Die Wandertaube gehört zur Familie der Tauben (Columbidae). Aufgrund morphologischer und physischer Ähnlichkeiten nahmen Ornithologen wie Enrique H. Bucher an, dass die Wandertaube eng mit den Trauertauben (Zenaida) verwandt sei. Einige Wissenschaftler ordneten die Trauertaube sogar der Gattung Ectopistes zu.

Trotz dieser Ähnlichkeiten unterschieden sich die Wandertauben deutlich von den Trauertauben, etwa durch ihre größere Körpergröße, das Fehlen eines Gesichtsstreifens, ihren ausgeprägten Geschlechtsdimorphismus, schillernde Nackenfedern und kleinere Gelege. In einer 2002 veröffentlichten Studie analysierte die US-amerikanische Genetikerin Beth Shapiro erstmals alte DNA (aDNA) von Museumsexemplaren der Wandertaube. Ihre Analyse ergab, dass die Wandertaube enger mit den Kuckuckstauben (Macropygia) verwandt ist, während die Trauertauben näher mit Amerikanischen Erdtauben (Geotrygon) und Schallschwingentauben (Leptotila) in Verbindung stehen.

Patagioenas fasciata
Die Schuppenhalstaube und andere Amerikanische Feldtauben gehören zu den nächsten lebenden Verwandten der ausgestorbenen Wandertaube. (© Félix Uribe, CC BY-SA 2.0, via Wikimedia Commons)

Eine weitere bedeutende genetische Studie, The Flight of the Passenger Pigeon, veröffentlicht von dem Ornithologen Kevin P. Johnson im Jahr 2010, bestätigte, dass die Wandertaube am engsten mit den Amerikanischen Feldtauben (Patagioenas), darunter die im Westen Nordamerikas verbreitete Schuppenhalstaube, verwandt war. Diese Gattung ist wiederum nahe verwandt mit südostasiatischen Taubengattungen wie den Weißgesichtstauben (Turacoena), Kuckuckstauben und Langschwanztauben (Reinwardtoena). Die Autoren der Studie vermuten, dass die Vorfahren der Wandertaube die Neue Welt möglicherweise aus Südostasien über den Pazifik oder über Beringia, die frühere Landbrücke zwischen Asien und Nordamerika, besiedelten.

Eine 2012 veröffentlichte Studie, die erstmals nukleare DNA der Wandertaube untersuchte, bestätigte die enge genetische Verwandtschaft mit den Neuwelt-Tauben der Gattung Patagioenas. Anders als die Ergebnisse von 2010 deuteten diese Befunde jedoch darauf hin, dass die Vorfahren der Wandertaube und ihrer altweltlichen Verwandten nicht aus Südostasien, sondern aus der neotropischen Region der Neuen Welt stammten – einem Gebiet, das Mittel- und Südamerika sowie die Karibik umfasst.

Die Wandertaube hatte keine bekannten Unterarten. Es wurde berichtet, dass sie sich in Gefangenschaft mit der Lachtaube (Streptopelia risoria) kreuzte, wobei die Nachkommen jedoch unfruchtbar waren.

Gentechnik: Die Rückkehr der Wandertaube?

Unterstützt von der Non-Profit-Organisation Revive & Restore haben Biologen der University of California in Santa Cruz im Jahr 2012 das Passenger Pigeon Project ins Leben gerufen, um die ausgestorbene Wandertaube wieder zum Leben zu erwecken. Ziel dieses Projekts ist es nicht nur, diese einst weitverbreitete Vogelart zurückzubringen, sondern auch ihre verlorene ökologische Rolle in den Wäldern des östlichen Nordamerikas wiederherzustellen. Das Projekt soll als Modell für die Wiederbelebung ausgestorbener Arten (De-Extinktion) dienen und aufzeigen, wie verlorene ökologische Funktionen durch die Rückkehr einer Schlüsselart wiederhergestellt werden können.

Historisch spielten die riesigen Schwärme der Wandertauben eine entscheidende Rolle im Ökosystem. Durch ihre dichte Besiedlung und die großen Mengen an Exkrementen, die sie abwarfen, verursachten die Tauben natürliche Störungen im Wald. Diese Störungen regten die Regeneration an, förderten die Artenvielfalt und trugen zur langfristigen Gesundheit der Wälder bei. Seit dem Aussterben der Wandertaube fehlen diese natürlichen Störfaktoren, was zu einer Verringerung der regenerativen Zyklen führte und sich negativ auf die Biodiversität der Region auswirkte. Die Wiederansiedlung einer stabilen Population könnte daher das ökologische Gleichgewicht in den Wäldern wiederherstellen und zur Förderung der biologischen Vielfalt beitragen.

Jungvogel der Wandertaube
Ein Jungvogel der Wandertaube, fotografiert im Jahr 1896.
J. G. Hubbard, Public domain, via Wikimedia Commons)

Das Passenger Pigeon Project basiert auf einem mehrstufigen genetischen Verfahren. Zunächst wird das Genom der Schuppenhalstaube, eines engen Verwandten der Wandertaube, vollständig sequenziert und mit dem der ausgestorbenen Wandertaube verglichen. Durch gezielte genetische Veränderungen sollen die Merkmale der Wandertaube in lebenden Schuppenhalstauben rekonstruiert werden. Diese genetisch veränderten Tauben werden dann in Gefangenschaft gezüchtet und später in die Wildnis entlassen, um eine neue Generation von Wandertauben zu schaffen, die ihre ursprüngliche Rolle in der Natur wieder übernehmen kann.

Das Projekt hat bereits wichtige Fortschritte erzielt. So wurde das Genom der Schuppenhalstaube vollständig entschlüsselt, und die Forscher haben begonnen, die relevanten Gene zu identifizieren und zu bearbeiten. Allerdings stehen noch erhebliche Herausforderungen bevor, darunter die Schaffung einer ausreichend großen Population und die Bereitstellung geeigneter Lebensräume für die Rückkehr der Wandertauben. Kritiker, darunter der WWF, äußern Bedenken, dass sich der ehemalige Lebensraum der Wandertaube so stark verändert habe, dass eine erfolgreiche Wiedereinführung fraglich sei. Es wird zudem diskutiert, ob die beträchtlichen finanziellen Mittel, die für dieses ambitionierte Projekt aufgewendet werden, nicht besser in den Schutz gefährdeter Arten und Lebensräume investiert werden sollten.

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