Entdeckt, beschrieben, nie wieder gesehen
Beeindruckt von der britischen Challenger-Expedition, organisierte die Österreichische Akademie der Wissenschaften Ende des 19. Jahrhunderts mehrere Forschungsreisen mit dem Transportdampfer SMS Pola, auf denen das östliche Mittelmeer, die Adria und das Rote Meer erkundet werden sollten. Die letzte Pola-Expedition, bei der der wissenschaftliche Schwerpunkt auf der zoologischen Erforschung lag, führte 1897 und 1898 ins Rote Meer. Während dieser zweiten Österreichisch-Ungarischen Tiefsee-Expedition beschreibt Paul Edler von Pott die Sammlung mehrerer Zitterrochen am 15. Dezember 1897:
„Da das Wetter den ganzen Tag über klar blieb, konnten unsere Arbeiten regelmäßig und ohne Probleme durchgeführt und am Abend des 15. abgeschlossen werden. Zwei Schleppnetze am Morgen des 15. (…), als der Wind noch nicht allzu stark geworden war, bescherten uns eine sehr willkommene Ergänzung zu unserer Sammlung – unter anderem auch noch mehr Exemplare des neuen blau gefleckten Zitterrochens aus dem Roten Meer.“
Expedition S.M. Schiff ‚Pola‘ in das Rothe Meer. Südliche Hälfte (September 1897-Marz 1898). Beschreibender Theil. Denkschriften der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, P. E. von Pott, 1899
Der Zitterrochen aus dem Roten Meer unterschied sich dank seiner auffälligen Flecken, die an das Fellmuster einer Giraffe erinnerten, von allen anderen bekannten Zitterrochen. Die neu entdeckten Fische besitzen auf dem leuchtend braunen Rücken acht große dunkelbraune Augenflecken mit helleren Konturen. Dass von Pott von blau gefleckten Rochen schreibt, könnte daran liegen, dass die Flecken bei lebenden Tieren tatsächlich bläulich waren, während sie bei in Alkohol konservierten Exemplaren braun erscheinen.
Der österreichische Zoologe Franz Steindachner, wissenschaftlicher Leiter der Pola-Expeditionen und einstiger Kurator der Fischsammlung am Naturhistorischen Museum (NHM) in Wien, erkannte in den gefangenen Fischen sogleich eine neue Zitterrochen-Art. Diese beschrieb er als Torpedo suessii im Jahr 1898. In Steindachners Erstbeschreibung heißt es unter anderem:
„3 Exemplare dieser auffallend gezeichneten, schönen Art, weche [sic] ich Herrn Prof. E. Suess als ein Zeichen meiner besonderen Verehrung und Hochachtung zu widmen mir erlaube, wurden mit der Tratta im December 1897 in der Nebenbucht des Hafens von Perim und bei Mocca gefischt.“
Über einige neue Fischarten aus dem rothen Meere. Anzeiger der Akademie der Wissenschaften in Wien 35(19), S. 198-200, F. Steindachner, 1898
Bei diesen drei historischen Exemplaren von Suess‘ Zitterrochen, die sich heute in der Fischsammlung im NHM Wien befinden, blieb es dann auch – oder doch nicht? Der brasilianische Fischkundler Marcelo R. de Carvalho verweist in seiner Veröffentlichung Torpedo adenensis, a New Species of Electric Ray from the Gulf of Aden von 2002 auf die Existenz eines möglicherweise viertes Exemplars. Dieses wurde nicht gesammelt, sondern existiert nur auf einem Foto, das der US-amerikanische Ichthyologe Jack Randall im sudanesischen Teil des Roten Meeres aufgenommen hat. Letztendlich ist Carvalho sich aber nicht sicher, ob der auf dem Foto abgebildete Rochen, der andere Hautflecken aufweist, tatsächlich ein Suess‘ Zitterrochen ist, der ein größeres Verbreitungsgebiet hat als bisher angenommen, oder ob es sich um eine bislang unbeschriebene Art handelt.
Suess‘ Zitterrochen – Steckbrief
wissenschaftliche Namen | Torpedo suessii, Torpedo suessi, Torpedo suissi |
englischer Name | Red Sea Torpedo |
ursprüngliches Verbreitungsgebiet | Rotes Meer, Jemen |
Zeitpunkt des Aussterbens | nach 1897 |
Ursachen für das Aussterben | unklar, möglicherweise Überfischung |
Ist Suess‘ Zitterrochen ausgestorben?
Trotz auffälliger Hautflecken, die in der Natur kaum zu übersehen sind, konnte Suess‘ Zitterrochen seit seiner Erstsammlung im Jahr 1897 nicht mehr beobachtet werden. Die Art ist nur aus einem sehr kleinen, weniger als 100 Quadratkilometer umfassenden Gebiet vor Mocha aus dem südlichen Roten Meer im Jemen bekannt. Aufgrund dieses begrenzten Verbreitungsgebiets nehmen Wissenschaftler häufig an, dass Suess‘ Zitterrochen, wenn nicht bereits ausgestorben, zumindest vom Aussterben bedroht ist. Da auch von anderen Zitterrochen bekannt ist, dass sie nur in kleinen Verbreitungsgebieten anzutreffen sind, erscheint es unwahrscheinlich, dass Suess‘ Zitterrochen noch außerhalb seiner Typuslokalität existiert.
Die meisten Zitterrochen sind dafür bekannt, einen erheblichen Teil ihrer Zeit im sandigen oder schlammigen Meeresboden zu verbringen. Es wird angenommen, dass auch Suess‘ Zitterrochen eine benthische Lebensweise in der Bodenzone des Meeres verfolgt. Diese Präferenz für den Meeresboden macht es für wissenschaftliche Untersuchungen natürlich schwierig, die Art zu erfassen. Allerdings erhöht es aber auch die Chance, dass die Spezies noch existiert.
Da nicht viel über Suess‘ Zitterrochen bekannt ist, können auch nur Vermutungen darüber angestellt werden, warum er möglicherweise ausgestorben ist. Die IUCN hebt hervor, dass sowohl legale als auch illegale Fischerei in jemenitischen Gewässern nach wie vor ein ernsthaftes Problem darstellen. Die industrielle Schleppnetz-Fischerei begann im Jemen in den 1970er-Jahren, erreichte ihren Höhepunkt bei den Fängen Ende der 1990er-Jahre und ging bis zum Ende der 2000er-Jahre zurück, was auf einen Rückgang des Fischbestands im Roten Meer hinweist.
Obwohl Zitterrochen im Allgemeinen nicht gezielt gefangen werden, sind sie aufgrund ihres trägen benthischen Verhaltens anfällig für Schleppnetz-Fischerei und landen oft im Beifang. Die Überlebenschancen von zurückgeworfenen Zitterrochen im Meer gelten als gering. Schätzungen von Greenpeace zufolge enden jährlich rund 100 Millionen Haie und Rochen als Beifang. Rochen werden insbesondere bei bodennahen Fangmethoden, wie etwa der Fischerei nach Seezunge oder Kabeljau, als Beifang erfasst.
Suess‘ Zitterrochen wurde auch in Fangmengen benachbarter Gebiete wie dem saudi-arabischen Roten Meer oder dem Sudan nicht nachgewiesen. Wegen seines vermutlich begrenzten und kleinen Verbreitungsgebiets sowie der insgesamt rückläufigen Fänge aufgrund intensiver und fortlaufender Fischerei stuft die Weltnaturschutzorganisation IUCN Suess‘ Zitterrochen seit 2017 als vom Aussterben bedroht (wahrscheinlich ausgestorben) ein.
Suess‘ Zitterrochen: Handelt es sich um eine eigene Art?
Ob es sich bei Suess‘ Zitterrochen tatsächlich um eine valide Spezies handelt, wurde in der Literatur lange Zeit kontrovers diskutiert. In The Plagiostomia: Sharks, skates, and rays von 1913 betrachtete der US-amerikanische Ichthyologe und Herpetologe Samuel Garman Suess‘ Zitterrochen entweder als eigenständige Art oder als „eng verwandt, wenn nicht identisch mit“ dem gelb-braun gefleckten Bogenstirn-Zitterrochen (T. panthera). Der britische Fischkundler Alec Fraser-Brunner war einer von vielen, der in Note on the electric rays of the genus Torpedo (1949) vermutete, dass T. suessii ein Juniorsynonym von T. sinuspersici sei, einem ebenfalls gefleckten Rochen, der unter anderem im Roten Meer vorkommt. Es gab auch andere Autoren, die auf das spezifische Farbmuster von Suess‘ Zitterrochen hinwiesen und seinen Artstatus befürworteten, darunter zum Beispiel Carvalho:
„Obwohl leicht verblasst, ist die auffällige Originalfärbung von T. suessi immer noch in den Typusexemplaren vorhanden (…), was ihn leicht von Artgenossen aus dem westlichen Indischen Ozean, dem Roten Meer und angrenzenden Golfen unterscheidet. (…) Es ist undenkbar, dass das auffällige Farbmuster von T. suessi (…) in das typische Muster kleiner, unregelmäßiger weißlicher Flecken von T. panthera oder in das netzartige oder marmorierte weißliche Muster über einem dunkelbraunen Hintergrund von T. sinuspersici übergeht. (…) Wir widersprechen daher der Annahme, dass T. suessi ein Synonym für eine dieser beiden Arten ist, und betrachten sie als eine gültige Art, die zumindest im südlichen Roten Meer vorkommt, bekannt von zwei existierenden Typusexemplaren.“
Torpedo adenensis, a New Species of Electric Ray from the Gulf of Aden, American Museum Novitates, 2002(3369), S. 1-34, M. R. de Carvalho, M. F. W. Stehmann & L. G. Manilo, 2002
Mehr als 120 Jahre nach der Erstbeschreibung durch Steindachner hat sich die Zoologin Anja Palandačić gemeinsam mit dem Team der Fischsammlung des NHM Wien mit einem der drei alten Museumsstücke von Suess‘ Zitterrochen befasst, um eine genetische Vergleichsanalyse zur Klärung des Artstatus durchzuführen. Die genetische Untersuchung From historical expedition diaries to whole genome sequencing: A case study of the likely extinct Red Sea torpedo ray aus dem Jahr 2023 unterstützt die Annahme, dass Suess‘ Zitterrochen tatsächlich, wie bereits von Carvalho vermutet, eine eigenständige Spezies innerhalb der Torpedo-Gattung darstellt.
Palandačić führte nicht nur genetische Analysen durch, sondern verglich auch Suess‘ Zitterrochen mit anderen Rochen der Gattung Torpedo, um neben genetischen auch morphologische Unterschiede aufzuzeigen. Das Farbmuster auf dem Rücken von Suess‘ Zitterrochen unterscheidet sich signifikant von Artverwandten im nordwestlichen Indischen Ozean, im Roten Meer und den angrenzenden Golfen. Darüber hinaus existieren zahlreiche weitere morphologische Merkmale, die T. suessii von anderen Zitterrochen abheben.
Die Zitterrochen-Gattung Torpedo als taxonomische Herausforderung
Palandačić betont in ihrer Publikation, dass die taxonomische Zuordnung innerhalb der Gattung Torpedo besonders herausfordernd ist. Dern Grund: Es gibt sowohl Fälle hoher intraspezifischer Variabilität als auch geringer interspezifischer Variabilität. Das bedeutet, dass es innerhalb der Torpedo-Zitterrochen große Unterschiede zwischen den Individuen einer Art gibt, während sich verschiedene Arten innerhalb eines Ökosystems oft ähnlich sind. In der Vergangenheit wurden möglicherweise Arten beschrieben, die lediglich verschiedene Farbvarianten derselben Spezies repräsentieren, während andere Arten noch gänzlich unbeschrieben sind.
Rochen sind eine Klasse der Knorpelfische (Chondrichthyes), zu denen auch Haie (Selachii) und Seekatzen (Chimaeriformes) gehören. Die Familie der Zitterrochen (Torpedinidae) umfasst mehr als 20 Arten in zwei Gattungen. Aktuell werden 13 Arten der Gattung Torpedo zugeordnet, darunter drei vermutlich nicht valide Arten und mehrere kürzlich entdeckte, aber noch nicht beschriebene Arten, laut Palandačić. Zu den gültigen Arten gehört der wahrscheinlich ausgestorbene Suess‘ Zitterrochen, von dem in der Literatur lediglich drei Exemplare dokumentiert sind. Die Gattung Torpedo unterscheidet sich von anderen Zitterrochen der Gattung Tetronarce anhand ihres besonderen Hautmusters, das marmoriert, gepunktet oder mit Augenflecken versehen sein kann.
Zitterrochenartige (Torpediniformes) sind kleine bis mittelgroße Rochen mit elektrischen Organen, die zur Erzeugung elektrischer Entladungen dienen. Manche Torpedorochen nutzen ihre elektrisches Organe, um größere Fische zu betäuben und anschließend zu fressen. Meistens dient das elektrische Organ jedoch zur Verteidigung gegenüber Fressfeinden wie etwa Haien.
Elektrische Rochen sind weltweit in gemäßigten und tropischen Meeren verbreitet. Sie variieren in Form, Farbe und Größe, wobei die kleinsten Rochen 15 Zentimeter lang sind und die größten, wie der Atlantische Zitterrochen (Tetronarce nobiliana), eine Länge von bis zu 180 Zentimetern erreichen können. Das größte dokumentierte Exemplar von Suess‘ Zitterrochen, ein Weibchen, misst knapp 30 Zentimeter in der Körperlänge.
Von den mehr als 600 bekannten Rochen-Arten, die von der IUCN erfasst sind, sind 56 Arten vom Aussterben bedroht, 68 als stark gefährdet eingestuft, 101 als gefährdet und bei 90 Spezies ist die Datenlage unzureichend. Neben Suess‘ Zitterrochen gilt auch der Java-Stachelrochen (Urolophus javanicus) als vom Aussterben bedroht und möglicherweise bereits ausgestorben, da er seit mehr als 150 Jahren nicht nachgewiesen werden konnte. Ein bereits ausgestorbener Knorpelfisch ist der sogenannte Lost Shark Carcharhinus obsoletus, der bis etwa 1934 im Südchinesischen Meer beheimatet war.
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