Palaeopropithecus ingens
Lebendrekonstruktion von Palaeopropithecus ingens. Smokeybjb, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons)

Palaeopropithecus ingens (Riesenlemur)

Madagaskars Yeti: tratratratra, trétrétrétré oder Palaeopropithecus ingens

In der madagassischen Folklore ist tratratratra oder trétrétrétré ein angsteinflößender, einzelgängerischer, großer, haariger Affenmensch mit dem Gesicht und den Ohren eines Menschen. Seine Füße und Hände sollen denen von Affen ähneln, sein Fell soll kraus und sein Schwanz kurz sein. Der französische Naturforscher Étienne de Flacourt beschrieb den tratratratra in Histoire de la grande Isle Madagascar 1658 als erster. Und auch vom französischen Volkskundler Gabriel Ferrand im 19. Jahrhundert gemachte Aufzeichnungen zu madagassischen Überlieferungen beschreiben ein großes Tier mit flachem, menschenähnlichem Gesicht.

Zunächst interpretierte die Wissenschaft Flacourts und Ferrands Beschreibungen als eine Art Megaladapis oder Koalalemur – eine großgewachsene Primatengattung Madagaskars, die etwa um 1500 ausgestorben ist. Da aber diese Riesenlemuren alles andere als ein menschliches Gesicht besaßen, kam die Forschung zu dem Schluss, dass den Berichten ein Tier aus der Gattung Palaeopropithecus zugrunde liegen muss.

Schon der belgisch-französische Zoologe und „Vater der Kryptozoologie“ Bernhard Heuvelmans war in On the Track of unknown Animals (1955) der Überzeugung, dass es sich beim tratratratra um einen bis mindestens ins 16. Jahrhundert überlebenden Palaeopropithecus handeln muss.

Durch Radiokohlenstoffdatierung subfossiler Palaeopropithecus-Überreste konnte gezeigt werden, dass die jüngsten Knochen von 1620 stammen und der Primatenart Palaeopropithecus ingens zuzuordnen sind. Die anderen Palaeopropithecus-Arten sind wahrscheinlich schon früher ausgestorben. Bei dem vermeintlichen Fabelwesen tratratratra aus den madagassischen Legenden handelt es sich also aller Wahrscheinlichkeit nach um den Riesenlemur Palaeopropithecus ingens.

Flacourt berichtete 1658 in seiner ‚Geschichte der großen Insel Madagaskar‘ auch von einem Tier namens Antamba, das von einigen Experten heute als Riesenfossa gedeutet wird. Bis zu diesem Zeitpunkt ging die Wissenschaft davon aus, Riesenfossas seien bereits 500 nach Christus ausgestorben.

Palaeopropithecus ingens – Steckbrief
alternative Bezeichnungentratratratra, trétrétrétré
wissenschaftlicher NamePalaeopropithecus ingens
englischer NameLarge Sloth Lemur
ursprüngliches VerbreitungsgebietMadagaskar (Indischer Ozean)
Zeitpunkt des Aussterbensnach 1500, Anfang 17. Jahrhundert
Ursachen für das AussterbenBejagung, Lebensraumverlust, auf Insel eingeschleppte Tiere, langsame Reproduktionsrate

Subfossile Funde weisen auf 3 Arten von Faultier-Lemuren hin

Heute sind der Forschung drei Arten aus der Primaten-Gattung Palaeopropithecus bekannt, die auf Madagaskar lebten: P. maximus, P. ingens und P. kelyus. Bei den Faultier-Lemuren (Palaeopropithecidae) handelt es sich um schwere baumbewohnende Lemuren, deren Körperbau und Lebensweise der von Faultieren ähnelte. Palaeopropithecus waren deutlich größer und schwerer als alle heute auf Madagaskar lebenden Primaten.

Zwei der Arten, P. ingens und P. maximus, sollen sich sehr ähnlich gewesen sein, sodass Experten vermuten, dass es sich um geografische Varianten derselben Art handeln könnte. Klar abzugrenzen ist P. kelyus, dessen Überreste erst 2002 entdeckt wurden. Diese Art besaß kleinere Zähne und ernährte sich von harten Nahrungsmitteln wie Samen und Nüssen, während die anderen beiden Blätter und Früchte bevorzugten.

Kennzeichnend für Palaeopropithecus war die suspensorische Lebensweise

Palaeopropithecus maximus
Schädel von Palaeopropithecus maximus im Muséum national d’Histoire naturelle in Paris. P. maximus und P. ingens sollen sich sehr ähnlich gewesen sein. (© Ghedoghedo, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons)

Wie auch unsere heutigen Faultiere, verbrachten Palaeopropithecus viel Zeit kopfüber, sich mit allen vier Gliedmaßen im Geäst festhaltend in Bäumen. Auch ihr Körperbau deutet auf eine langsame suspensorische Fortbewegung hin. Palaeopropithecus besaßen lange kräftige Arme und Beine mit besonders langen Fingern und Zehen. So konnten sie sich von Ast zu Ast oder Baum zu Baum schwingen, ohne die Baumebene verlassen zu müssen. Die baumbewohnende Lebensweise hat den Vorteil, sich von Raubtieren fernhalten und wertvolle Nahrungsressourcen sichern zu können.

Auch die Morphologie ihrer Lendenwirbel sowie die hochgradige Krümmung ihrer Finger- und Zehenknochen deute auf diese Lebensweise hin, so eine paläontologische Studie aus dem Jahr 1997. Biomechanisch gesehen, hängt die Knochenkrümmung mit den Anforderungen an die Umgebung, in der Palaeopropithecus lebten, zusammen. Als Baumbewohner ist es nämlich überlebenswichtig, dass die Greiffunktion bei Finger- und Ziehengliedern sehr gut ausgebildet ist. Auch weil Palaeopropithecus mit 45 bis 60 Kilogramm bedeutend schwerer als heutige Lemuren waren, mussten ihre Gliedmaßen sehr kräftig sein, um ihr Gewicht überhaupt halten zu können.

Die Essgewohnheiten von Palaeopropithecus waren auch anders als die heutiger Lemuren, wie eine US-amerikanische Studie zur Zahnabnutzung bei ausgestorbenen Lemuren von 2004 zeigt. Die Zähne von P. ingens deuten etwa darauf hin, dass er zähe Blätter und Früchte fraß. So konnte er eine ökologische Nische füllen, innerhalb derer er sich auf unterschiedliche Nahrungsressourcen verlassen konnte. Es gibt keine Hinweise darauf, dass Palaeopropithecus auf terrestrische Nahrung (etwa Wurzeln, Gräser oder Knollen) angewiesen waren.

Besiedlung Madagaskars führte zum Niedergang der Megafauna

Sloth Lemur Felsenmalerei
Die einzige bekannte Darstellung eines ausgestorbenen Riesenlemuren in der Andriamamelo-Höhle im Westen Madagaskars. Es handelt sich um eine Jagdszene mit einem Menschen (ganz links), einem Faultier-Lemur (mittig) und zwei Jagdhunden (rechts). (© Burney et. al 2020, via Wikimedia Commons)

Als die ersten Menschen nach Madagaskar kamen, war die Insel von einer Vielzahl von Megafauna-Lebewesen besiedelt, die heute nicht mehr existieren, wie etwa die Riesenfossa, der Elefantenvogel, der Madagaskar-Kronenadler oder die Riesenlemuren. Wann die einzelnen Palaeopropithecus-Arten ausgestorben sind, ist nicht ganz klar. Wissenschaftler vermuten, dass es vor rund 500 Jahren geschah. Als Ursache für das Verschwinden der Riesenlemure wird häufig der Mensch angesehen, der bereits erste Spuren etwa 2.300 vor Christus auf Madagaskar hinterließ.

Allgemein anerkannt ist, dass sowohl menschliche als auch natürliche Faktoren zum Aussterben der Riesenlemure geführt haben. In Lemurs: Ecology and Adaptation (2006) schreibt die amerikanische Paläontologin Laurie Godfrey, dass es mit der Ankunft von Menschen auf Madagaskar zum Niedergang der Megafauna kam. Mithilfe von Untersuchungen von Sedimentkernen konnte nämlich herausgefunden werden, dass die Sporormiella-Sporen, die auf dem Kot von Haustieren und wilden Pflanzenfressern vorkommen, seit der Ankunft der Menschen auf der Insel dramatisch zurückgingen. Der Grund: Dieser Pilz kann seinen Lebenszyklus nicht ohne den Kot großer Tiere abschließen. Der Rückgang des Pilzes bedeutet demnach einen starken Rückgang der Populationen riesiger Lemuren und anderer großer Pflanzenfresser.

Fossilien mit Schnittspuren weisen darauf hin, dass das Fleisch der Riesenlemuren mit einem scharfen Gegenstand von den Knochen entfernt worden ist. Wahrscheinlich wurden die Knochen auch als Werkzeuge umfunktioniert. Es ist anzunehmen, dass frühe Kolonisten auf Madagaskar Palaeopropithecus als Nahrungsquelle bejagt haben. Das geht aus Evidence of early Butchery of Giant Lemurs in Madagascar (2005) hervor, eine im Journal of Human Evolution veröffentlichte Studie, unter anderem vom Bioarchäologen Ventura R. Perez.

Da sich Riesenlemuren wie Faultiere gemächlich fortbewegten, waren sie eine leichte Beute für menschliche Jäger. Auch ihre Tagaktivität mag dazu beigetragen haben, dass sie einfacher von Menschen entdeckt und erlegt werden konnten. Hinzu kommt eine langsame Reproduktionsrate der großen Tiere, sodass sie schneller getötet wurden, als sie sich fortpflanzen konnten.

Die Besiedlung Madagaskars durch den Menschen brachte viele Veränderungen auf der Insel mit sich. So war nicht nur die Jagd auf Palaeopropithecus ein Problem, sondern auch die Einfuhr von nicht heimischen Nutztieren, die einen Eingriff ins Ökosystem bedeuteten und zu Nahrungskonkurrenten für andere Pflanzenfresser wurden. (Menschengemachte) Waldbrände könnten außerdem zur Zerstörung der Wälder, in denen die Riesenlemuren lebten, geführt haben.

Existiert Palaeopropithecus ingens möglicherweise doch noch?

Die IUCN gibt P. ingens als die Riesenlemur-Art an, die am längsten überlebt hat. Als Flacourt im 17. Jahrhundert mit Einwohnern Madagaskars aus der Region Tolagnaro (Fort Dauphin) im Südosten der Insel sprach, erweckten sie den Eindruck, dass sie glaubten, P. ingens oder tratratratra sei noch am Leben. Volkskundler zeichneten bis ins späte 19. Jahrhundert Geschichten über einen „Oger“ mit merkwürdigen Faultier-ähnlichen Verhaltensweisen auf. Es ist vorstellbar, dass Erinnerungen an Palaeopropithecus in den mündlichen Überlieferungen einiger madagassischer Kulturgruppen bis heute bestehen.

Kryptozoologen halten es bisweilen sogar für möglich, dass diese Lemuren noch heute in den abgelegenen Wäldern Madagaskars existieren. Es gibt ja auch immer mal wieder unbestätigte Sichtungen – auch in jüngerer Zeit. So schrieb der tschechische Journalist und Kryptozoologe Arnošt Vašíček über Begegnungen mit dem tratratratra. In einem Bericht über zwei Männer des Betsimisaraka-Stammes, die 1991 am Fuße des Tsaratanana-Gebirges übernachteten, heißt es:

„Plötzlich nahmen sie einen intensiven Tiergeruch wahr. Sie konnten in der Dunkelheit nichts sehen. Das Geräusch knackender Äste ließ sie annehmen, dass etwas Schweres sich ihnen vorsichtig näherte. (…) Nach langer Zeit konnten sie einen riesigen Körper mit breiten Schultern und vergleichsweise kleinem, spitzen Kopf (…) erkennen. Der Riese war mehr als zwei Meter groß. Er hatte lange, kräftige Arme. (…) Die Betsimisarakas konnten sein Gesicht nicht sehen, aber sie hatten das Gefühl, wie sie später sagten, dass sie von tratratratra mit Neugier beobachtet wurden.“

Der Paläobiologe David A. Burney und der Archäologe Ramilisonina interviewten im Sommer 1995 ältere Madagassen mit Kenntnissen zu Traditionen und der Naturgeschichte ihrer Heimat an der Südwestküste Madagaskars. Die Ergebnisse veröffentlichten sie 1998 unter dem Titel The Kilopilopitsofy, Kidoky, and Bokyboky im Journal American Anthropologist. Die lebendigen, mündlich überlieferten Berichte der Madagassen lassen letztlich vermuten, dass das Aussterbefenster für die Riesenlemuren weitaus größer ist, als bislang angenommen. Lemerles Flusspferd, das wohl als Vorbild für die Legende von Kilopilopitsofy diente, wollen einige Madagassen sogar noch 1976 gesehen haben.

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