Die Inselkette der ausgestorbenen Vögel
Etwa 580 Kilometer östlich von Madagaskar liegt die knapp 110 Quadratkilometer große Insel Rodrigues (auch Rodriguez) als Teil der Maskarenen im Indischen Ozean. Auf ihr lebte einst der Rodrigues-Solitär, eine große, flugunfähige Taube, nahe verwandt mit dem ausgestorbenen Dodo von der Maskarenen-Insel Mauritius. Und 200 Kilometer weiter wiederum befindet sich die Insel Réunion, auf der der flugunfähige Réunion-Solitär einmal existierte.
Der französische Entdecker und Hugenotte François Leguat floh 1690 zusammen mit anderen Hugenotten auf einem Schiff nach La Réunion, um dort ein neues Leben anzufangen. Doch nachdem feststand, dass die Insel noch von Franzosen bewohnt war, landeten Leguat und seine Männer schließlich auf der unbewohnten Insel Rodrigues. Dort wollten sie eine protestantische Republik namens Eden aufbauen.
Als Leguat 1698 nach Europa zurückkehrte, hielt er die naturkundlichen Beobachtungen seiner siebenjährigen Reise in seinem 1708 in London erschienenen Buch The Voyage of Francois Leguat fest. Er berichtete von einer bislang unbekannten Welt und die Menschen erfuhren von neuen Vogel- und Reptilienarten, unter anderem auch vom Rodrigues-Solitär:
„Von allen Vögeln auf der Insel ist der bemerkenswerteste derjenige, der unter dem Namen ‚Solitaire‘ bekannt ist, weil er nur sehr selten in Gesellschaft zu sehen ist, obwohl es viele von ihnen gibt.“
The voyage of François Leguat of Bresse, to Rodriguez, Mauritius, Java, and the Cape of Good Hope. 1708. S. 77. F. Leguat
Die meisten der Arten, die Leguat in seinem Reisebericht erstmals beschrieb, sind heute ausgestorben. Zu den endemischen Vogel- und Reptilienarten von Rodrigues, die in der Neuzeit verschwanden, zählen: Leguats Sumpfhuhn, die Rodrigues-Eule, der Rodrigues-Nachtreiher, der Rodrigues-Papagei, der Rodrigues-Sittich, die Rodrigues-Riesenschildkröte und der Rodrigues-Riesengecko.
Rodrigues-Solitär – Steckbrief
alternative Bezeichnungen | Rodriguez-Solitär, Rodrigues-Einsiedler, Rodriguez-Einsiedler |
wissenschaftliche Namen | Pezophaps solitaria, Pezophaps minor, Didus solitarius |
englische Namen | Rodrigues solitaire, Rodriguez solitaire, Rodrigues solitary |
ursprüngliches Verbreitungsgebiet | Rodrigues (Maskarenen, Indischer Ozean) |
Zeitpunkt des Aussterbens | unklar, möglicherweise 1730er-Jahre |
Ursachen für das Aussterben | Bejagung, auf Insel eingeschleppte Tiere, Lebensraumverlust |
IUCN-Status | ausgestorben |
Der Rodrigues-Solitär wird zum Gegenstand der Wissenschaft
Lange zweifelten Wissenschaftler die Existenz des Rodrigues-Einsiedlers an und taten Leguats Reisebericht als Märchen ab, bis man 1786 tatsächlich Knochen des Vogels in einer Höhle entdeckte. Dies nahm der deutsche Naturforscher J. F. Gmelin zum Anlass, den Rodrigues-Solitär 1789 als eine Dodo-Art (Didus solitarius) wissenschaftlich zu beschreiben.
Der englische Naturkundler H. E. Strickland und A. G. Melville, ein irischer Experte für vergleichende Anatomie, verglichen 1859 subfossiles Material vom Rodrigues-Solitär mit denen vom Dodo und hielten ihre Erkenntnisse in einem Artikel für The Transactions of the Zoological Society of London fest. Sie fanden heraus, dass die Knochen nicht identisch sind, aber viele Gemeinsamkeiten aufweisen und dass die Beinknochen der beiden Vögel wiederum denen von Tauben ähneln.
Strickland ordnete den Rodrigues-Solitär sogleich einer neuen Gattung zu, die er Pezophaps nannte (altgriechisch pezos für Fußgänger und phaps für Taube). Mit der Benennung spielt er auch auf die Flugunfähigkeit der Vogelart an.
Im Übrigen ergaben die von der Evolutionsbiologin Beth Shapiro 2002 durchgeführten DNA-Analysen an Dodo und Rodrigues-Solitär, dass diese wirklich nah verwandt sind und zur Familie der Tauben (Columbidae) gehören. Der nächste lebende Verwandte der beiden ausgestorbenen Vogelarten ist die in Südostasien heimische Kragen- oder Nikobarentaube (Caloenas nicobarica), gefolgt von den Krontauben (Goura) auf Neuguinea und der seltenen auf Samoa lebenden Zahntaube (Didunculus strigirostris). Es handelt sich bei der Gruppe also ausschließlich um auf Inseln endemische Bodenvögel.
Verhalten und Ökologie: Warum der Rodrigues-Solitär ein Einsiedler war
Zeitgenössische Beobachtungen des Rodrigues-Solitärs deuten darauf hin, dass sowohl die Männchen als auch die Weibchen ein sehr territoriales Verhalten aufwiesen. Um ihr Revier zu verteidigen setzten sie knöcherne Verhärtungen an ihren Flügeln zum Kampf ein. Der Autor Igor Akimuschkin veranschaulicht dies 1981 in seinem Buch Vom Aussterben bedroht?:
„Ihre Flügel (oder richtiger: das Rudiment von Flügeln) waren länger als die der anderen Dronten. An ihren Spitzen baumelten seltsame runde Knochengebilde, je eines an jedem Flügel, herab, die die Größe einer Musketenkugel hatten. Mit diesen ‚Kugeln‘ konnten die Dronten einander wie mit Schlagringen bekämpfen und sich zum Beispiel auch vor Hunden schützen.“
Vom Aussterben bedroht? 1981. S. 23f. I. Akimuschkin
Häufige Knochenbrüche, die man an den Flügelknochen der Solitäre fand, weisen auch auf ein solches Verhalten hin. Zu dieser Erkenntnis erlangte der Ornithologe Bradley C. Livezey in einem Beitrag über flugunfähige Tauben der Maskarenen, veröffentlicht 1993 im Journal of Zoology.
Zwar fanden Wissenschaftler auch beim Dodo verheilte Frakturen, doch vermutet man, dass der Rodrigues-Solitär mehr Grund hatte, territoriales Verhalten an den Tag zu legen. Der britische Paläontologe und Vogelkundler Julian P. Hume sieht 2013 in Fight Club: A unique Weapon in the Wing of the Solitaire den Grund in den unterschiedlichen klimatischen Bedingungen auf Mauritius und Rodrigues. So führten möglicherweise saisonale Schwankungen und geringere Niederschläge auf Rodrigues zu aggressivem Verhalten im Kampf um verfügbare Ressourcen. Zudem weist Errol Fuller in seiner Monographie Extinct Birds (2001) auf die Existenz von Berichten hin, nach denen sich der Rodrigues-Einsiedler mit kräftigen Bissen verteidigte.
Dass Rodrigues-Solitäre nicht zu den geselligsten Vögeln zählen, zeigt auch der Umstand, dass sie keine Koloniebrüter waren. Sie lebten monogam und verteidigten ihr Territorium als Paar oder Einzelgänger. Sie legten immer nur ein Ei in das auf dem Boden errichtete Nest; die weiblichen und männlichen Tiere teilten sich die Brutpflege.
Zusammenhang zwischen Verhalten und Inselgröße
Eine Studie aus dem Jahr 2024 untersuchte, warum der Rodrigues-Solitär aggressive Eigenschaften entwickelte, während sein naher Verwandter, der Dodo, friedlich blieb. Kenneth F. Rijsdijk und sein Team konzentrierten sich auf die Auswirkungen des Meeresspiegelanstiegs nach der letzten Eiszeit auf das Verhalten der Vögel. Während der Eiszeit war Rodrigues etwa 1.000 Quadratkilometer groß. Doch mit dem globalen Anstieg des Meeresspiegels am Ende der Eiszeit vor rund 18.000 Jahren wurde der äußere Ring der Vulkaninsel überflutet, und der Lebensraum des Rodrigues-Solitärs schrumpfte auf nur noch 100 Quadratkilometer.
Durch mathematische Modelle konnten die Forscher zeigen, dass die rapide Verkleinerung der Insel zu intensivem Wettbewerb um Ressourcen führte. Es wird angenommen, dass die Überflutung der Insel so schnell voranschritt, dass die Nester der Vögel an den Küsten untergingen. Die Solitäre mussten ins Landesinnere ausweichen, wo Platz- und Nahrungsmangel zu Konflikten führten. Da dieser Überflutungsprozess über Jahrtausende andauerte, setzte eine starke Selektion auf Aggression ein: Die aggressivsten Vögel verteidigten ihre Territorien erfolgreich und übertrugen ihre genetisch bedingte Aggression auf die nächste Generation. Als die Insel schließlich 90 Prozent ihrer Fläche verlor, waren alle Vögel aggressiv. Auch die Entwicklung der knöchernen Verdickungen an den Flügeln lässt sich auf diesen Selektionsdruck zurückführen.
Der Einsiedler von Rodrigues war ein Steinfresser
Die wissenschaftliche Bezeichnung Pezophaps minor stammt von Strickland und geht zurück auf den stark ausgeprägten Sexualdimorphismus beim Rodrigues-Einsiedler. Der Unterschied zwischen den weiblichen und männlichen Solitär-Vögeln war nämlich so groß, dass Strickland annahm, es handele sich bei dem kleineren, weiblichen Vogel um eine andere Art, die er Pezophaps minor nannte.
Die männlichen Rodrigues-Einsiedler konnten eine Länge von bis zu 90 Zentimetern erreichen und bis zu 28 Kilogramm wiegen, während die Weibchen nur etwa 70 Zentimeter groß und rund 17 Kilogramm schwer wurden. Auch in der Färbung unterschieden sich die Geschlechter, so notierte Leguat in seinem Reisebericht:
„Die Federn der Männchen sind von brauner, grauer Farbe (…). Die Weibchen sind wunderbar schön, einige hell, andere braun; ich nenne sie hell, weil sie die Farbe von hellem Haar haben. (…) Keine Feder steht irgendwo am Körper von den anderen ab (…).“
The voyage of François Leguat of Bresse, to Rodriguez, Mauritius, Java, and the Cape of Good Hope. 1708. S. 77f.. F. Leguat
Wie auch bei Dinosauriern, dem Südinsel-Riesenmoa oder beim Dodo fanden Wissenschaftler Magensteine (Gastrolithen) in Skeletten des Rodrigues-Solitärs. Der Vogel hat sozusagen Steine gefressen. Diese dienen im Magen üblicherweise zur Zerkleinerung von Nahrung, was darauf hindeutet, dass sich der Solitär unter anderem von harten pflanzlichen Samen ernährte, deren Schale nur durch die Steine zerstört werden konnte. Manche Steine sollen so groß wie Hühnereier gewesen sein.
Schon Leguat beobachtete dieses Verhalten, er ging aber zu jener Zeit davon aus, dass die Vögel bereits mit Steinen im Magen schlüpfen. Tatsächlich ist es weitaus wahrscheinlicher, dass die erwachsenen Rodrigues-Einsiedler ihre Jungtiere bereits mit Steinen fütterten, so Julian P. Hume und Anthony Cheke in Lost Land of the Dodo (2008).
Das Fehlen pflanzenfressender Säugetiere auf Rodrigues und Mauritius hat dazu geführt, dass Vogelarten wie der Rodrigues-Solitär und der Dodo im Laufe der Zeit derart groß werden konnten. Und das Fehlen fleischfressender Säuger führte dazu, dass sie ihre Flugfähigkeit einbüßten.
Der Rodrigues-Einsiedler verschwand, als die Menschen kamen
Mit der Besiedlung von Rodrigues ab 1725 durch Franzosen begann das Sterben vieler nur dort existierender Tierarten. Das Ökosystem der Insel veränderte sich: Von den Wäldern, die einst die gesamte Insel bedeckten, ist heute kaum noch etwas übrig. Die Internationale Union zur Bewahrung der Natur (IUCN) nennt 1778 als Aussterbezeitpunkt für den Rodrigues-Solitär.
Vermutlich fiel das Aussterben der Vogelart mit dem Schildkrötenhandel zwischen 1730 und 1750 zusammen. Damals fingen französische Kolonisten tausende Riesenschildkröten, um sie als Reiseproviant an vorbeifahrende Schiffe zu verkaufen. In dieser Zeit wurden auch Brandrodungen durchgeführt und Katzen, Ratten oder Schweine eingeschleppt, die sich von Vogeleiern und jungen Vögeln ernährten.
Der auf Mauritius geborene Ingenieur Joseph-François Charpentier de Cossigny suchte 1755, nachdem man ihm versicherte, die Solitäre gibt es noch, 18 Monate lang in abgelegeneren Inselregionen nach dem Vogel – erfolglos. Seinen Aufzeichnungen nach, gaben die Bewohner eingeschleppten Katzen die Schuld am Verschwinden des Solitärs. Doch er erkannte schon damals den wahrend Grund: Die flugunfähigen Vögel waren eine leichte Beute für die Menschen. Bestätigt wird dies durch Leguats Aufzeichnungen, wonach er und seine Männer das zarte Fleisch der Jungvögel schätzten.
Auch dem französischen Astronom Alexandre Guy Pingré versicherte man, die Solitäre hätten überlebt, allerdings nur an den unzugänglichsten Stellen der Insel. Als er 1761 nach Rodrigues kam, sah er jedoch ebenfalls kein Exemplar.
Bereits 1786, als die ersten subfossilen Überreste des Rodrigues-Solitärs entdeckt wurden, so Fuller, erinnerte sich keiner der Inselbewohner daran, jemals einen lebenden Solitär gesehen zu haben. Da die Insel mit ihren 110 Quadratkilometern recht überschaubar ist, erscheint es ziemlich unwahrscheinlich, dass der Rodrigues-Einsiedler längere Zeit unentdeckt überlebt haben könnte.
Quellen
- Akimuschkin, I. (1981): Vom Aussterben bedroht?
- Fuller, E. (2001): Extinct Birds.
- Hume, J. P., Cheke, A. (2008). Lost Land of the Dodo: An Ecological History of Mauritius, Réunion & Rodrigues.
- Hume, J. P., Steel, L. (2013). Fight club: a unique weapon in the wing of the solitaire, Pezophaps solitaria (Aves: Columbidae), an extinct flightless bird from Rodrigues, Mascarene Islands. Biological Journal of the Linnean Society 110(1). S. 32-44.
- Leguat, F. (1708). The voyage of François Leguat of Bresse, to Rodriguez, Mauritius, Java, and the Cape of Good Hope. Volume 1.
- Livezey, B. C. (1993). An ecomorphological review of the dodo (Raphus cucullatus) and solitaire (Pezophaps solitaria), flightless Columbiformes of the Mascarene Islands. Journal of Zoology 240. S. 247-292.
- Rijsdijk, K. F., Croll, J. C., et. al. (2024). Sea level rise and the evolution of aggression on islands. iScience 27(11).
- Rothschild, L. W. (1907). Extinct birds: an attempt to write in one volume a short account of those birds which have become extinct in historical times, that is within the last six or seven hundred years: to which are added a few which still exist, but are on the verge of extinction.
- Shapiro, B., Sibthorpe, D., et. al. (2002). Flight of the Dodo. Science 295(5560). S. 1683.
- Strickland, H. E. (1859). XVI. On some Bones of Birds allied to the Dodo, in the Collection of the Zoological Society of London. The Transactions of the Zoological Society of London 4. S. 187-196.
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