Pseudobactricia ridleyi
Das einzige bekannte Exemplar von Ridleys Stabheuschrecke befindet sich heute im National History Museum in London. Paul Brock's photos, copyright Natural History Museum, London., CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons)

Ridleys Stabschrecke

Über Wandelnde Blätter und Wandelnde Äste

Insekten, die in ihrem Aussehen Blättern oder Ästen stark ähneln, werden als Wandelnde Blätter beziehungsweise Wandelnde Äste oder Stabschrecken, Stabheuschrecken, Gespenstschrecken oder Phasmiden bezeichnet. Stabschrecken gelten als die längsten Insekten der Erde. Die Körperlänge mancher südostasiatischer Arten kann mit ausgestreckten Beinen mehr als einen halben Meter betragen. Die meisten Stabschrecken-Arten kommen in tropischen und subtropischen Lebensräumen vor, einige aber auch in Kanada, Japan, Europa oder auf Neuseeland.

Ridleys Stabschrecke ist nur von einem einzigen männlichen Exemplar her bekannt, das Anfang des 20. Jahrhunderts im Insel- und Stadtstaat Singapur gesammelt wurde. Wahrscheinlich bewohnte diese Insektenart den tropischen Regenwald. Der englische Insektenkundler William Forsell Kirby beschrieb Ridleys Stabschrecke 1904 als erster wissenschaftlich unter dem Namen Bactricia ridleyi in Notes on Phasmidae in the Collection of the British Museum:

Grünlich braun; Kopf kurz, hinten schmaler werdend, und mit zwei gestauchten stumpfen Hörnern zwischen den Augen; Abstand zwischen den Hörnern und den Antennen, seitlich des Kopfes (…). Antennen und Beine lang und dünn, letztere fast gerade, und unbewaffnet bis auf einen scharfen, flachen, gebogenen Stachel nahe der Basis unterhalb des mittleren Oberschenkelbeins (…).

Notes on Phasmidae in the Collection of the British Museum (Natural History), Annals and Magazine of Natural History, Series 7, Volume 13, 1904, Issue 78, W. F. Kirby.

Der Körper des gefundenen Individuums, das sich heute im National History Museum in London befindet, war ungefähr 12,5 Zentimeter lang, hinzu kamen noch rund 8,3 Zentimeter lange Beine und Antennen. Da bei Stabschrecken fast immer ein ausgeprägter Geschlechtsdimorphismus auftritt und Weibchen größer als Männchen sind, ist davon auszugehen, dass diese Art noch größer werden konnte.

Der 2016 im Fachmagazin Zootaxa veröffentlichten Übersicht The Types of Phasmida in the Natural History Museum, London, UK lässt sich entnehmen, dass der von Kirby 1904 beschriebene Holotypus von Henry Nicholas Ridley stammt, worauf auch das Artepitheton ridleyi hindeutet. Ridley war ein britischer Botaniker, der von 1888 bis 1911 die Singapore Botanic Gardens leitete, wo er auch auf die bis dato unbekannte Stabschrecken-Art stieß.

Ridleys Stabschrecke – Steckbrief
alternative BezeichnungRidleys Stabheuschrecke
wissenschaftliche NamenPseudobactricia ridleyi, Bactricia ridleyi, Bacteria ridleyi
englischer NameRidley’s Stick Insect
ursprüngliches VerbreitungsgebietSingapur
Zeitpunkt des Aussterbens1904
Ursachen für das AussterbenLebensraumverlust, Wilderei

Lebensraumverlust könnte zum Aussterben von Ridleys Stabschrecke geführt haben

Singapur Mangroven
Die Mangrovenwälder sind auf Singapur die einzige ursprüngliche Vegetation, alles andere wurde erst neu gepflanzt, als der Regenwald abgeholzt war. (© Wzhkevin, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons)

Die Weltnaturschutzorganisation IUCN nennt als wahrscheinliche Ursachen für das Verschwinden von Ridleys Stabschrecke den Verlust von Lebensraum sowie auch die Möglichkeit, dass die Art im Rahmen traditioneller asiatischer Medizin eine Rolle gespielt und deshalb gesammelt worden sein könnte. Tatsächlich erfuhr Singapur während des 20. Jahrhunderts eine rasche Entwicklung verbunden mit einem enormen Bevölkerungswachstum. Zwischen 1911 und 1957 führten etwa Masseneinwanderungen aus China und Indien zu einer Vervierfachung der Bevölkerung Singapurs. Und auch danach stieg die Bevölkerungszahl stark an: Zwischen 1985 und 1995 etwa wuchs sie jährlich um durchschnittlich 1,8 Prozent.

Die Bevölkerungszunahme und das wirtschaftliche Wachstum Singapurs führten zum Verlust von 95 Prozent des ursprünglichen Regenwaldes seit 1819 innerhalb von 183 Jahren. Nur einer kleiner Teil von 0,025 Prozent ist von den einstigen 740 Quadratkilometern Regenwald übrig geblieben. Dies geht aus einer Studie (2003) des australischen Umweltwissenschaftlers Barry W. Brook hervor, in der er das Artensterben von Flora und Fauna infolge der Entwaldung Singapurs untersucht hat.

Die Wälder, die heute auf Singapur zu finden sind, wurden erst gepflanzt, nachdem der Regenwald, der den rund 683 Quadratkilometer großen Inselstaat einst bedeckte, nahezu vollständig abgeholzt war. Wegen der hohen Besiedlungsdichte ist von der ursprünglichen Vegetation Singapurs kaum etwas erhalten geblieben. Eine Ausnahme bilden die Mangrovenwälder an den Küstenlandstrichen.

Inwiefern Ridleys Stabschrecke für die traditionelle asiatische Medizin eine Rolle gespielt haben könnte, lässt sich nicht sagen. Bekannt ist aber, so etwa die Entomologen Frank Hennemann und Bruno Kneubühler auf phasmotodea.com, dass die Eier einiger größerer Gespenstschrecken-Arten wegen ihres hohen Proteingehalts und als Mittel gegen Durchfallerkrankungen von der indigenen Bevölkerung Borneos gegessen werden.

Könnte Ridleys Stabschrecke noch existieren?

Seit 2018 listet die IUCN Ridleys Stabschrecke in Roter Liste als ‚ausgestorben‘, da zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehr als 100 Jahren kein weiteres Individuum ausfindig gemacht werden konnte. Mehrere intensive Suchen im verbliebenen Wald Singapurs sowie auch in den benachbarten Ländern nach dieser Spezies oder Gattung verliefen ohne Erfolg.

Der zur Ordnung der Phasmiden oder Stabschrecken gehörende Stamm Diapheromerini enthält 37 Gattungen. Eine dieser Gattungen ist Pseudobactricia, die erst 1999 vom britischen Entomologen Paul D. Brock aufgestellt wurde und zu der als monotypischer Vertreter ausschließlich Ridleys Stabschrecke gehört. Die meisten der Arten des Stammes Diapheromerini sind in Nord- und Südamerika zu finden, was die Autoren der Enzyklopädie Singapore Biodiversity (2011) zu der Vermutung veranlasst, dass Ridleys Stabschrecke gar nicht in Singapur endemisch war. Für diese These spricht auch, dass das einzige Exemplar im Singapore Botanic Gardens gefunden wurde. Das heißt, es ist nicht allzu unwahrscheinlich, dass das ier versehentlich zusammen mit Pflanzen importiert wurde. Somit hätten Wissenschaftler am falschen Ort nach Tieren dieser Spezies gesucht.

Baumhummer
Der zur Ordnung der Gespenstschrecken gehörende Baumhummer galt lange Zeit als ausgestorben, bis er 2001 auf der unbewohnten, kleinen Felsinsel Ball’s Pyramid (Australien) wiederentdeckt wurde. © Dryococelus_australis_02_Pengo.jpg: Peter Halasz. (User:Pengo)derivative work: WolfmanSF, CC BY-SA 2.5, via Wikimedia Commons)

Und noch ein weiterer Umstand gibt Anlass zur Hoffnung, wenn es um das Überleben von Ridleys Stabschrecke geht, denn immerhin haben Wissenschaftler in den vergangenen Jahren mindestens drei ausgestorben geglaubte Phasmiden wiederentdeckt: 1990 Scotts Stabschrecke (Carausius scotti) von der Seychellen-Insel Silhoutte, 2001 der Baumhummer (Dryococelus australis) von den australischen Inseln Lord Howe und Ball’s Pyramid sowie von New South Wales in Australien und 2009 Davidrentzia valida, die ebenfalls auf der Lord-Howe-Insel und in New South Wales endemisch ist.

Interessantes über Gespenstschrecken

Phasmiden-Eier
Das Bild zeigt 21 Eier verschiedener Gespenstschrecken-Arten. (© Drägüs, via Wikimedia Commons)

Eine Besonderheit von Phasmiden ist, dass sie keine vollständige Metamorphose (Gestaltwandel) durchlaufen, wie wir es von anderen Insekten kennen, wo junge Tiere in Gestalt und Lebensweise stark von erwachsenen Tieren abweichen. Bei den Gespenstschrecken gibt es kein Puppenstadium und die Nymphen sehen den erwachsenen Tieren bereits sehr ähnlich.

Die jungen Tiere schlüpfen aus Eiern, die je nach Art vollkommen unterschiedlich aussehen können und oft Pflanzensamen oder dem Kot der Tiere ähneln. Das hat den Vorteil, dass sie auf dem Erdboden kaum zu erkennen sind. Gespenstschrecken-Eier sind zur Bestimmung der Arten teilweise besser geeignet als die Insekten selbst. So entwickelte sich auch die Ootaxonomie, ein Zweig der Zoologie, bei dem Eier vor allem zur Bestimmung von Arten herangezogen werden.

Die häufig nachtaktiven Gespenstschrecken zählen übrigens zu den Fluginsekten (Pterygota) und tatsächlich besitzen viele Arten Flügel und können fliegen, wobei die Mehrzahl der beflügelten Tiere keine guten Flieger sind. Einige Phasmiden-Arten haben nur verkümmerte oder gar keine Flügel, bei anderen ist die Ausbildung der Flügel geschlechtsabhängig. Sämtliche Gespenstschrecken-Arten sind Pflanzenfresser. Manche Arten sind dabei auf bestimmte Pflanzenspezies oder -gruppen spezialisiert, während andere Spezies wiederum sehr unspezialisiert sind.

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