Über die Biologie der Labradorente ist wenig bekannt
Von der Labradorente wissen wir, dass sie schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts recht selten war. Innerhalb eines kurzen Zeitraums zwischen 1850 und 1870 verschwand die Entenart allmählich. Und im Herbst 1875 oder 1878 erschoss ein Jäger auf Long Island das letzte Exemplar. Bis heute ist nicht vollständig geklärt, warum die Labradorente ausgestorben ist.
Über die Labradorente ist nicht viel bekannt. Ihre Nahrungsgewohnheiten, ihr Verbreitungsgebiet oder ihre Fortpflanzung sind genauso spekulativ wie die Aussterbeursachen. In verschiedenen nordamerikanischen und europäischen Museen existieren 54 oder 55 Bälge und zehn Eier des Vogels. Offenbar war ein Labradorentenbalg damals bedeutungsvoller, als die Biologie des Vogels zu studieren. So erschien es den Sammlern wohl vernachlässigbar, genaue Angaben zu hinterlegen, die verraten, wo und wann das Tier jeweils erlegt wurde.
Die Labradorente gehörte zu den Vogelarten, die saisondimorph waren. Das heißt, sie trug während der Brutzeit ihr Pracht- oder Brutkleid, was durch Mauser erworben wurde. Den Rest des Jahres trug sie ihr Schlichtkleid. Dieses ähnelt sich bei Erpeln und Enten.
Der Geschlechtsdimorphismus, die Unterschiede zwischen Männchen und Weibchen, fiel bei den Labradorenten vor allem zur Brutzeit auf, denn mit seinem Prachtleid unterschied sich der Erpel deutlich von seiner Partnerin. So waren Kopf, Kehle, Hals, Brust und Flügel des Männchens weiß, der Rest war schwarz. Besonders auffällig war der schwarze Scheitelstreifen auf dem Kopf sowie der schwarze Querstreifen am Hals des Vogels. Die weiblichen Labradorenten waren das ganze Jahr über einheitlich braungrau, teils mit blauem Schimmer, die Kehle weißlich. Das auffälligste am Weibchen war wohl ihr großer, weißer Flügelspiegel.
Labradorente – Steckbrief
wissenschaftlicher Name | Camptorhynchus labradorius |
englische Namen | Labrador Duck, Pied Duck, Skunk Duck, Sand Shoal Duck |
ursprüngliches Verbreitungsgebiet | Ostküste Nordamerikas |
Zeitpunkt des Aussterbens | 1878 |
Ursachen für das Aussterben | unklar, möglicherweise Bejagung und Ausbeutung, Lebensraumverlust, Veränderungen des Ökosystems |
Spekulationen zum Verbreitungsgebiet
Zum Verbreitungsgebiet der Labradorente lassen sich lediglich Vermutungen anstellen. Sicher ist, dass sie nicht das ganze Jahr über am selben Ort verlieb. Wissenschaftler schätzen, dass ihre Brutgebiete auf einigen Inseln im Sankt-Lorenz-Golf, im Norden von Quebec und in Labrador, eine Provinz Neufundlands auf der zu Kanada gehörigen Labrador-Halbinsel, waren. Möglich ist aber auch, dass ihre Brutgebiete noch weiter im Norden zu finden waren und sie sich nur während des Herbstzuges in dieser Region aufhielt.
Im Winterhalbjahr traf man die Labradorente an Nordamerikas Atlantikküste in einer Region an, die von Labrador bis in den Süden nach Chesapeake Bay, der größten Flussmündung der USA, reichte. Es existieren zudem Berichte, dass die Entenart in den Küstengewässern Long Islands, eine zum Bundesstaat New York gehörige Insel, vor New Jersey, Neuengland und in der Bay of Fundy überwintert hat. Die IUCN nennt zudem das Gebiet von der kanadischen Seeprovinz Nova Scotia bis in den Süden nach Florida.
Labradorenten nisteten vermutlich auf Sandbänken und um geschützte Buchten herum; im Winter suchten sie möglicherweise in flachen Buchten, Häfen und Flussmündungen nach Nahrung.
Schnabel der Labradorente weist auf Nahrungsspezialisierung hin
Auf die von der Labradorente bevorzugte Nahrung schließt unter anderem der australische Zoologe Tim Flannery in A Gap in Nature (2001) aufgrund ihres besonderen Schnabels. Der Schnabelrand war sehr weich und besaß im Inneren zahlreiche Lamellen. Die in Australien endemische Rosenohrente (Malacorhynchus membranaceus), die in keiner Weise mit der Labradorente verwandt ist, besitzt einen sehr ähnlichen Schnabel. Die Rosenohrente ernährt sich hauptsächlich von Plankton, aber auch von Weichtieren.
Da man im Kropf einer erschossenen Labradorente Muschelreste gefunden hat, ist anzunehmen, dass sie sich von Muscheln ernährte. Es existieren allerdings einige Berichte, die die Labradorente als einen Vogel beschreiben, der im Küstensaum nach Nahrung suchte und dabei auch Schlammbänke durchforstete.
Wiederum andere Beschreibungen weisen auf Ähnlichkeiten zur Löffelente (Spatula clypeata) hin, die ebenfalls einen lamellenreichen Schnabel besitzt. Löffelenten durchsieben mit ihrem Schnabel das Wasser nach Nahrung wie etwa Plankton, Wasserflöhe oder Würmer. Zudem gründeln sie und bleiben dabei länger unter Wasser als andere Entenarten. Eine große Leber bei der Labradorente könnte auch darauf hindeuten, dass sie lange tauchen konnte. Ein weicher Schnabelrand kann im dunklen, tiefen Wasser auch zum Tasten eingesetzt werden.
Die britische Ornithologin Janet Kear stellt in Ducks, Geese and Swans 2005 die Theorie auf, dass die Labradorente eine ähnliche ökologische Nische wie die Scheckente (Polysticta stelleri) einnimmt, deren Hauptverbreitungsgebiet am Beringmeer ist. Auch Scheckenten besitzen einen Schnabel mit weichem Rand und sind gute Taucher, die auch gründeln. Sie ernähren sich vorwiegend von Krebsen, Muscheln und Weichtieren. Kears These wird durch eine mitogenomische Analyse aus dem Jahr 2018 gestützt, die zeigt, dass die Scheckente der nächste Verwandte der Labradorente ist.
Gründe für das Verschwinden der Labradorente unklar
Wenn es darum geht, warum die Labradorente ausgestorben ist, kommt den meisten sicherlich die Frage nach der Bejagung des Vogels in den Sinn. Es gibt viele Hinweise darauf, dass es sich um eine sehr scheue und vorsichtige Ente handelte, die relativ schwierig zu erlegen war. Zudem soll ihr Fleisch nicht sehr schmackhaft gewesen sein und es verdarb oft schneller, als man es verkaufen konnte. Die Daunen der Ente hatten wahrscheinlich eher einen kommerziellen Wert.
Labradorenten sollen außerdem während der Brutzeit nicht bejagt worden sein, was dem Populationswachstum, so könnte man meinen, durchaus zuträglich sein sollte. Der Labradorenten-Kenner Glen Chilton jedoch äußert 1997 in The Birds of North America, herausgegeben von den Ornithologen A. Poole und F. Gill, die Vermutung, dass ihre Eier in großer Zahl von Fischern geräubert wurden.
Sicher ist, dass die Besiedlung Nordamerikas durch Europäer nach 1492 Auswirkungen auf das Ökosystem hatte. Möglicherweise hat sich so das Angebot an verfügbarer Nahrung verändert. Oder – so Dieter Luther 1986 in Die ausgestorbenen Vögel der Welt – das Bevölkerungs- und Industriewachstum sowie die durch den Schiffsverkehr hervorgerufene Verschmutzung der östlichen Küstengewässer dezimierte die Schalentierbrut und führte zum Rückgang der Salzwassermollusken, sodass es in den Winterquartieren der Labradorente weniger Nahrung gab. Der weiche Schnabelrand des Vogels weist darauf hin, dass es sich um einen Nahrungsspezialisten handelte. Solche Arten reagieren auf Veränderungen besonders sensibel.
Der US-amerikanische Ornithologe Dean Amadon äußerte 1953 in Migratory Birds of Relict Distribution: Some Inferences eine Theorie, die in eine ähnliche Richtung geht. Auch er geht davon aus, dass der menschliche Einfluss die Küstenökosysteme Nordamerikas veränderte. Dies habe viele Vögel dazu veranlasst, ihre Nischen zu verlassen und sich einen neuen Lebensraum zu suchen. Das Verbreitungsgebiet der Labradorente sei hingegen auf die amerikanische Nordatlantikküste beschränkt gewesen, sodass kein Nischenwechsel stattfinden konnte.
Schon immer ein seltener Vogel?
Der britische Autor und Zeichner Errol Fuller merkt in Extinct Birds (2000) an, dass die Labradorente schon bei ihrer wissenschaftlichen Erstbeschreibung durch den deutschen Naturforscher Johann Friedrich Gmelin im Jahr 1789 nicht allzu häufig vorkam. Während des Bestandseinbruch zwischen 1850 und 1870 seien insbesondere Erpel selten gesichtet worden.
Bei der Labradorente handelt es sich wohl um die erste endemische Vogelart Nordamerikas, die nach dem Columbian Exchange ausgestorben ist. Die letzte bekannte Sichtung war vermutlich 1878 in Elmira, New York. Dies geht aus einem 1891 erschienenem Buch über die Labradorente von William Dutcher hervor. Bei dieser „Sichtung“ wurde die Labradorente nicht nur gesehen, sondern auch gleich erschossen und gegessen.
Nach der Labradorente sind noch weitere in Nordamerika endemische Vogelarten wahrscheinlich für immer verschwunden: die Wandertaube seit 1914, der Karolinasittich seit 1918, der Elfenbeinspecht seit etwa 1987 und der Eskimo-Brachvogel (Numenius borealis) starb wohl auch irgendwann im 20. Jahrhundert aus.
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