Haplochromis vonlinnei holotyp Buntbarsch Victoriasee
Der bräunlich-graue Buntbarsch Haplochromis vonlinnei erreichte eine Länge von knapp 16 Zentimetern. Seine Schnauze war relativ spitz und seine Zähne stark gebogen. Es ist anzunehmen, dass es sich bei der Art um einen spezialisierten Fischfresser handelte, denn in den Därmen der gesammelten Exemplare fand man Überreste kleinerer Buntbarscharten.

Haplochromis vonlinnei (Buntbarsch)

Einer von 500 Furu – Haplochromis vonlinnei

Bei Haplochromis vonlinnei handelt es sich um eine wahrscheinlich ausgestorbene Buntbarschart aus dem Viktoriasee in Ostafrika. Die wissenschaftliche Erstbeschreibung der Spezies erfolgte 2008 durch den niederländischen Ichthyologen Martien J. P. Van Oijen anhand von fünf Exemplaren, die man zwischen 1978 und 1980 im südlichen Teil des Viktoriasees, im Golf von Mwanza gefangen hatte. Bei diesen fünf Exemplaren ist es geblieben, denn die Art konnte nie wieder nachgewiesen werden. Die Weltnaturschutzorganisation IUCN listet Haplochromis vonlinnei als „vom Aussterben bedroht“, vermutet aber, dass die Spezies bereits ausgestorben sein könnte.

H. vonlinnei war nicht der einzige Buntbarsch (Cichlidae), der im Viktoriasee endemisch war, und schon mal gar nicht der einzige ausgestorbene Buntbarsch oder Furu, wie die Einheimischen im See lebende Cichliden nennen. Wissenschaftler vermuten, dass seit der letzten Austrocknung des Viktoriasees vor ungefähr 12.000 Jahren dort schätzungsweise 500 neue Buntbarsch-Arten entstanden sind. Wie viele Arten es genau waren, weiß niemand zu sagen, denn gerade als niederländische Zoologen dabei waren, eine Bestandsaufnahme vorzunehmen, veränderte eine ökologische Katastrophe die Fauna des Viktoriasees radikal:

„Wie die Kreise rund um den Stein, der ins Wasser geworfen wird, scheint der Nilbarsch sich wellenförmig von der Stelle in Uganda zu verbreiten, wo er eingesetzt wurde. Riesengroße Raubfische sind es, die sich wie nimmersatte Staubsauger einen Weg durch den See fressen.“

So beschreibt der niederländische Biologe Tijs Goldschmidt in Darwins Traumsee (1999) den Beginn dieser Katastrophe, die mit dem Einsetzen des Nilbarsches in den Viktoriasee ihren Anfang nahm.

Haplochromis vonlinnei – Steckbrief
alternative BezeichnungFuru
wissenschaftlicher NameHaplochromis vonlinnei
ursprüngliches VerbreitungsgebietViktoriasee (Ostafrika)
Zeitpunkt des Aussterbensnach 1980
Ursachen für das Aussterbeneingeschleppter Nilbarsch, Überfischung, Eutrophierung, Hybridisierung, Wasserverschmutzung

Wie aus dem Nilbarsch der Viktoriabarsch wurde

victoriasee karte
Der Viktoriasee hat ungefähr die Größe von Irland. Er ist Teil der Staaten Uganda, Kenia und Tansania. Es handelt sich flächenmäßig um den zweitgrößten See der Erde. (© Tom Patterson, US National Park Service, Public domain, via Wikimedia Commons)

In den 1950er-Jahren hielten es britische Kolonialbeamte für eine gute Idee, Nilbarsche (Lates niloticus) im Viktoriasee auszusetzen. Dazu muss man wissen, dass der Nilbarsch, der heute gerne auch Viktoriabarsch genannt wird, ein Raubfisch aus der Familie der Riesenbarsche (Latidae) ist. Er kommt normalerweise in Flüssen wie dem Nil, Schari, Senegal, Volta und Kongo sowie in einigen Seen und im Nildelta vor. Der Nilbarsch wird zwei Meter lang und wiegt um die 200 Kilogramm – ein ergiebiger Speisefisch also. Durch das Aussetzen des riesigen, vermehrungsfreudigen Fisches erwartete man sich, eine kommerziell attraktive Speisefischart züchten zu können. Dies sollte zum Aufschwung der regionalen, exportorientierten Fischindustrie führen, was ja auch so halbwegs geklappt hat. Das Geld landete allerdings nicht bei den mittellosen Anwohnern des Viktoriasees, sondern bei den Besitzern der Fangschiffe.

Der Nil- oder Viktoriabarsch brachte als räuberischer Fisch-Prädator aber nicht nur Vorteile, sondern er vermehrte sich enorm schnell in seinem neuen Lebensraum und führte maßgeblich zum massiven Bestandsrückgang oder gar zum Aussterben vieler Furu. Innerhalb von 30 Jahren soll der Nilbarsch 400 verschiedene Fischarten im Viktoriasee ausgerottet haben, heißt es im Dokumentarfilm Darwin’s Nightmare (2004). Ob diese Zahl der Wahrheit nahekommt oder völlig übertrieben ist, lässt sich nicht sagen, zumal vor der Einschleppung des Nilbarschs nie sämtliche im Viktoriasee lebende Fischspezies erfasst wurden. Niemand kann also sagen, wie viele Buntbarscharten für immer verschwunden sind.

Die IUCN geht davon aus, dass die Bestandszahlen von H. vonlinnei bereits im Laufe der 1970er-Jahre zurückgegangen sind. So erklärt sich auch, dass es nach 1980, als in Tansania beim Schleppnetzfischen einige Exemplare von H. vonlinnei gefangen wurden, keine Aufzeichnungen mehr über das Vorkommen der Art gibt.

Weitere Gründe für das Aussterben der Furu im Viktoriasee

I. Überfischung

Bevölkerungsdichte Victoriasee
Die Grafik zeigt eine deutliche Bevölkerungszunahme entlang der Ufer des Viktoriasees seit 1960. (© UNEP/GRID–Sioux Falls, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons)

Als Hauptursache für das Aussterben von H. vonlinnei betrachtet die IUCN die Verfolgung durch den invasiven Nilbarsch. Natürlich wurde H. vonlinnei auch befischt, jedoch stellte die Art – anders als der Nilbarsch – kein Fangziel dar, sondern war eher Beifang. Es gibt durchaus Biologen, die davon ausgehen, dass der Nilbarsch nur zu einem geringen Teil für das Verschwinden der Furu verantwortlich ist. Vielmehr sei die Überfischung eine wichtige Ursache. Goldschmidt schreibt auch, dass die Zahl der Furu aufgrund des Fischfangs bereits vor Auftauchen des Nilbarsches zurückging – zumindest an Stellen des Sees, an denen gefischt wurde. Als der Nilbarsch dann da war, ließ sich allerdings nachweisen, dass die Furu auch an den Stellen des Sees weniger wurden, die dünn besiedelt waren und wo kaum einer fischte.

II. Eutrophierung

Aufgrund von Entwaldung und möglicherweise durch sauren Regen ist es zur Einspülung von Nitraten und Phosphaten etwas aus der Landwirtschaft in den Viktoriasee gekommen, was den See nährstoffreicher für Algen machte. Das Ergebnis sind endlos erscheinende Blaualgenfelder, die die Wasseroberfläche bedecken. Und dies wiederum führt dazu, dass der See an diesen Stellen ohne Sauerstoff ist.

Ein weiteres Problem ist die Dickstielige Wasserhyazinthe (Pontederia crassipes), die als Neophyt weite Flächen des Viktoriasees bedeckt. Indem die Schwimmpflanze das Gewässer überwuchert, sorgt sie für das Aussterben heimischer Fische und Wasserpflanzen. Im Jahr 1995 waren 90 Prozent der ugandischen Küstenlinie von der Wasserhyazinthe überwuchert.

III. Hybridisierung

Darüber hinaus könnte H. vonlinnei potenziell durch Hybridisierung gefährdet gewesen sein. Der Grund: Seit den 1920er-Jahren ist der See infolge von Erosion und Entwaldung immer trüber geworden. Auch durch die verringerte Anzahl an algenfressenden Fischen im Viktoriasee, seitdem der Nilbarsch eingesetzt wurde, ist der See stark eutrophiert. Die Eutrophierung und Erosion führten wiederum zu vermehrter Sedimentation, was schließlich die Wasserdurchsichtigkeit verringert und die visuelle Partnererkennung beeinträchtigt. Weibliche Fische suchen sich ihre Partner oft aufgrund deren Färbung aus, ist das Wasser aber trüb, fällt die Partnerwahl anders aus als im klaren Wasser.

Normalerweise paaren sich unterschiedliche Arten nicht erfolgreich miteinander, doch bei den Furu konnte das funktionieren. Die genetische Verwandtschaft zwischen den Arten ist so eng, dass fruchtbare Nachkommen erzeugt werden können. Auch so können neue Arten entstehen und alte Arten verschwinden.

IV. Wasserverschmutzung

Auch die seit 1960 zunehmende menschliche Besiedlung entlang der Ufer des Viktoriasees geht mit Umweltproblemen wie etwa der Wasserverschmutzung einher. Aufgrund der intensiven menschlichen Besiedlung entlang seiner Ufer kämpft der See heute mit erheblichen Umweltproblemen, darunter Verschmutzung und Sauerstoffmangel. Diese Krisen führten dazu, dass der Global Nature Fund den Viktoriasee im Jahr 2005 zum „Bedrohten See des Jahres“ erklärte.

Wie konnten überhaupt so viele Buntbarscharten im Viktoriasee entstehen?

Haplochromis-Arten aus dem Viktoriasee
Verschiedene Fische der Gattung Haplochromis aus dem Viktoriasee.
Boulenger, George Albert; Loat, L., Public domain, via Wikimedia Commons)

Neben dem Flusspferd leben unzählige Fischarten im Viktoriasee – und die meisten von ihnen sind Buntbarsche der Gattung Haplochromis. Seit der letzten Austrocknung des Sees vor 12.000 Jahren ist evolutionsbiologisch gesehen nicht viel Zeit vergangen und dennoch sind in dieser kurzen Zeitspanne rund 500 neue Arten entstanden. Die Buntbarsche aus dem Viktoriasee, Darwins Galápagosfinken sowie die Taufliegen und die Kleidervögel (etwa Annakleidervogel oder Schwarzer Mamo) von Hawaii sind alles Paradebeispiele für das Phänomen der adaptiven Radiation.

Ähnlich wie bei den Galápagosfinken und den Kleidervögeln, wo die Schnabelform sich spezialisierten Ernährungsgewohnheiten anpasste, war es mit den Furu: Ihre Maulform und ihre Zähne nahmen vielerlei Gestalt an, um sich an eine Vielzahl ökologischer Nischen und unterschiedlichen Nahrungsquellen anzupassen. Die Buntbarsche veränderten sich morphologisch und nahmen bestimmte Rollen ein. So gibt es beispielsweise Fischfresser, Algenfresser, Insektenfresser, Schneckenfresser, Blätterfresser, Schuppenfresser oder Schlammsieber.

Die im Fachmagazin Science veröffentlichte Studie Cycles of fusion and fission enabled rapid parallel adaptive radiations in African cichlids (2023) untersucht, wie die Diversität unter den Furu zustande kam. Dafür analysierten die Forscher 460 Genome von Buntbarschen. Das Ergebnis: Die Radiation konnte aufgrund eines sich wiederholenden Prozesses von Hybridisierung und Spezialisierung so schnell stattfinden. Die Artenvielfalt im See ist demnach nicht auf die Einwanderung von Fischen aus anderen Gewässern zurückzuführen, sondern lediglich aus der Neukombination des Erbguts dreier Stammarten.

Durch Vermischung und Aufspaltung der Buntbarscharten konnten weitere Arten entstehen. Die kleinen Fischfresser etwa entstanden durch Kreuzung von großen Raubfischen und kleinen Algenfressern. Die neuen Spezies sind zwar nah miteinander verwandt, unterscheiden sich aber dennoch in der Lebensweise, auf die sie sich spezialisiert haben, und in der ökologischen Nische, die sie besetzen.

H. vonlinnei – ein Fischfresser

Die niederländischen Ichthyologen van Oijen und Frans Witte beschreiben in Taxonomy, ecology and fishery of Lake Victoria haplochromine trophic groups (1990) 15 trophische Gruppen unter den Buntbarschen des Viktoriasees. Sie klassifizieren die Cichliden anhand ihrer Nahrung und ihrer Technik zur Nahrungsverarbeitung. Die größte dieser Gruppen sind die Fischfresser, zu denen auch H. vonlinnei gehört. Van Oijen entdeckte nämlich in den Mägen und/oder Därmen der zur Erstbeschreibung herangezogenen Exemplare Überreste kleinerer Haplochromis-Buntbarsche. Bei zwei der fünf Exemplare konnte die Länge der Beutetiere mit drei bis 3,7 Zentimeter geschätzt werden.

Zu den Fischfressern im Viktoriasee gehören mindestens 130 Arten, wozu allerdings auch jene zählen, die sich von Teilen anderer Fische oder Fischembryos ernähren wie die Schuppenfresser und die Pädophagen. Die Fischfresser, die Fische als Ganzes (in der Regel andere Haplochromis-Buntbarsche) verzehren, lassen sich in zwei Gruppen unterteilen, die ein unterschiedliches Jagdverhalten an den Tag legen: Die erste Gruppe greift aus dem Hinterhalt an oder stellt sich tot und schießt hervor, wenn Beute vorbeikommt. Die zweite Gruppe, bei der es sich meistens um ergonomisch geformte und schnelle Fische handelt, verfolgen ihre Beute. Zu welcher Gruppe H. vonlinnei gehörte, ist nicht sicher, aber aufgrund seiner Körperform ist anzunehmen, dass er eher zur zweiten Gruppe gehörte.

Die Fischfresser waren übrigens die ersten Haplochromis-Buntbarsche, die nach der Ankunft des Nilbarsches im Viktoriasee verschwanden, und dass obwohl sie sowohl in flachen Uferregionen mit weniger als einem Meter Tiefe als auch in offenen Gewässern bis zu 50 Metern Tiefe vorkamen.

Was vom Viktoriasee geblieben ist

Nilbarsch Lates niloticus
Nachdem der Nilbarsch durch Menschen im Viktoriasee ausgesetzt wurde und dort eine Menge heimischer Arten verdrängte, wurde er in die IUCN-Liste der 100 gefährlichsten Neobiota aufgenommen. (© Boulenger, George Albert; Loat, L., Public domain, via Wikimedia Commons)

Dass das Aussetzen nicht-einheimischer Arten in einem Ökosystem einschneidende Folgen für die Nahrungskette haben kann, zeigt sich deutlich am Beispiel des Nilbarsches. Für einen Großteil der Furu-Arten, war der Selektionsdruck, der mit der Anwesenheit des Nilbarsches einherging, zu groß und sie starben aus. Aber es gab auch einige Furu, die übriggeblieben sind, die schnell genug eine evolutionäre Antwort auf den gefräßigen Raubfisch finden konnten. So ist dokumentiert, dass so manche Spezies ihre Gestalt änderte, indem sie schlanker und schneller wurde, um besser vor dem Nilbarsch entkommen zu können.

Die differenzierte Fischgesellschaft, die sich in mindestens 14.000 Jahren der Koevolution herausgebildet hat, ist im Viktoriasee innerhalb weniger Jahre verschwunden. Eine Verarmung des Ökosystems ist die Folge: Kaum mehr Furu, Lungenfische, Elefantenrüsselfische oder Welse. Die Nilbarsche nehmen im Viktoriasee nun die Position der fischfressenden Furu und der furufressenden Welse ein. Das bedeutet, der Nilbarsch ist als einziger Raubfisch an die Stelle von mehr als hundert Rauchfischarten getreten.

Klar ist, dass das nicht ewig so weitergehen kann mit dem Nilbarsch, denn seine wichtigste Nahrungsquelle, die Furu, ist ja weitestgehend verschwunden. Mitte der 1980er-Jahre bestand mehr als 80 Prozent der Fischbiomasse im kenianischen Teil des Viktoriasees aus Nilbarsch – für einen Räuber an der Spitze der Nahrungskette eigentlich eine unhaltbare Rolle. Dennoch blieb der Nilbarsch. Der Grund: Die explosionsartige Zunahme von Caridina nilotica, der einzigen im Viktoriasee lebenden Garnele. Mit dem Verschwinden der Furu ist diese Garnele also zur wichtigsten Nahrungsquelle für den Nilbarsch geworden. Die Garnelen konnten sich so massenhaft vermehren, weil sie die abfallfressenden Furu, mindestens 13 Arten, ersetzen. Es bleibt abzuwarten, wie es mit dem Viktoriasee und seinen Bewohnern weitergeht.

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