Dramatische Entdeckungsreise zur Beringinsel
Das heutige Wissen über Stellers Seekuh beruht hauptsächlich auf Aufzeichnungen des Naturforschers Georg Wilhelm Steller, der als erster und auch einziger Wissenschaftler jemals eine lebende Stellersche Seekuh gesehen haben soll. Entdeckt hatte Steller die Seekuh wie auch den heute ausgestorbenen Brillenkormoran während der Zweiten Kamtschatka-Expedition ab 1733 unter Leitung des dänischen Marineoffiziers Vitus Bering, der sich in russischen Diensten befand. Das Schiff St. Peter geriet 1741 in einen schweren Sturm und strandete vor der Awatscha-Insel (später in Beringinsel umbenannt), die im äußersten Osten Sibiriens liegt. Aufgrund des schlechten Wetters mussten Bering und seine Mannschaft dort überwintern. Bering und 18 Besatzungsmitglieder überlebten diese Expedition nicht und starben an Skorbut, Kälte oder Entkräftung.
Während die Mannschaft auf der Beringinsel ums Überleben kämpften, studierte Steller die neu entdeckte Seekuh. Zu jener Zeit existierten vermutlich noch rund 2.000 Tiere auf der Beringinsel und der benachbarten Kupferinsel (Medny-Insel). Die durchschnittliche Jahrestemperatur beträgt dort etwa +2,8 Grad Celsius.
Stellers Seekuh – Steckbrief
alternative Bezeichnungen | Stellersche Seekuh, Riesenseekuh, Borkentier |
wissenschaftliche Namen | Hydrodamalis gigas, Rhytina stelleri, Rhytina borealis, Rhytina gigas, Manati gigas |
englischer Name | Steller’s Sea Cow |
ursprüngliches Verbreitungsgebiet | Beringmeer (nördlicher Pazifik) |
Zeitpunkt des Aussterbens | 1768 |
Ursachen für das Aussterben | Überjagung |
Stellers Seekuh: Vorne Robbe, hinten Fisch
Den Aufzeichnungen Georg Wilhelm Stellers ist zu entnehmen, dass die im flachen Kaltwasser lebende Stellersche Seekuh etwa acht Meter lang und zehn Tonnen schwer werden konnte. Da sich das Tier ausschließlich von weichem Seetang ernährte, waren seine Zähne rückgebildet. Es besaß lediglich zwei verhornte Kauplatten, mit denen es Seetang verreiben konnte.
Der russische Entdecker und Geograf Stepan Petrowitsch Krascheninnikow, der Teil der Expedition war, schrieb, dass man das Tier „für ein Mittelding zwischen einem Meeressäuger und einem Fisch“ gehalten habe; so nachzulesen in Igor Akimuschkins Buch Vom Aussterben bedroht?.
Tatsächlich sah die Riesenseekuh Robben ähnlich, nur dass sie statt Hinterflossen einen Fischschwanz hatte, der allerdings horizontal und nicht wie bei Fischen vertikal gestellt war. Im Gegensatz zu anderen Seekühen waren die vorderen Ruderflossen von Stellers Seekuh sehr klein. Die Schwanzflosse war dagegen fast zwei Meter breit.
Das National History Museum of Helsinki besitzt das weltweit intakteste und vollständigste Skelett der Stellerschen Seekuh. Doch irgendwie wirkt das Skelett unvollständig – oder doch nicht? Fehlen der Seekuh die Hände? Die Gliedmaßen des Tieres enden einfach am Handgelenk. Andere Meeressäuger wie Seehunde, Delfine oder Dugongs, die mit Stellers Seekuh sogar nah verwandt sind, weisen jedenfalls allesamt fingerähnliche Knochen auf, was Museumskuratoren der Vergangenheit zu der Annahme veranlasste, die Fingerknochen seien verloren gegangen. So ging man dazu über, Skelette mit Fingerknochen aus Plastik zu vervollständigen.
Michael Blencowe verweist in Gone (2021) auf Steller, der lebendige Seekühe beobachten konnte und damals notierte, die handlosen Vordergliedmaßen seien die wohl „merkwürdigste Besonderheit“ der Stellerschen Seekuh; „von Fingern keine Spur“ wie bei einer „amputierten menschlichen Extremität“. Diese in verdickter Haut gehüllten Vordergliedmaßen nutzten die Seekühe zum Schwimmen, zum Laufen im flachen Wasser und um Algen oder Seegras von den Felsen zu kratzen – und zum gegenseitigen Umarmen. Steller schrieb dazu: „Ich konnte keine Anzeichen für einen bewundernswerten Intellekt ausmachen, aber sie haben tatsächlich eine außerordentliche Liebe füreinander.“
Zur Untermauerung der Aufzeichnungen Georg Stellers konnten Forscher 2006 während einer Untersuchung aller bekannten Skelettreste der Stellerschen Seekuh „kein einziges Element einer Hand“ finden. Auch das Exemplar im Museum von Helsinki hat man einst mit künstlichen Fingern versehen, doch diese wurden längst wieder entfernt.
An ein Leben in der Kälte angepasst
Dass Stellers Seekuh in der Vergangenheit als Borkentier bezeichnet wurde, hängt mit ihrer besonderen Hautstruktur zusammen. Auch Krascheninnikow fiel dies auf und er schrieb dazu: „Die Haut der Riesenseekuh ist schwarz und dick wie die Borke einer alten Eiche, rauh, zerklüftet, nackt und so hart, daß man sie kaum mit einer Axt durchschlagen kann.“
Die Genetikerin Diana Le Duc und ihr Team haben 2022 mittels molekulargenetischer Analysen untersucht, wie Stellers Seekuh an das Leben in kalten Meeresgebieten angepasst war, denn alle heute noch lebenden Seekühe wie der Dugong, der Lamantin oder der Manati leben ausschließlich in tropischen Meeren und Flüssen. Für die Studie extrahierte das Forscherteam DNA aus den Knochen der ausgestorbenen Seekuh und verglich sie mit dem Genom heute noch existierender Seekühe und anderer Säugetiere.
Dabei stellten die Wissenschaftler fest, dass Stellers Seekuh aufgrund eines Gendefektes unter einer angeborenen Ichthyose litt. Ichthyosen meint eine Gruppe von Erbkrankheiten, die mit einer Verhornungsstörung der Haut einhergehen. Die oberste Hautschicht besteht dann meistens aus abgestorbenen Zellen und ist weitaus dicker als gewöhnlich. Während Menschen mit Ichthyose unter ihrer verhornten, trockenen, rissigen und entzündeten Haut leiden, von der sich sichtbar Schuppen ablösen, war die sogenannte Fischschuppen-Krankheit für Stellers Seekuh überlebenswichtig. Die mehr als zwei Zentimeter dicke Hornschicht schützte die Tiere aufgrund ihrer Strapazierfähigkeit vor Wärmeverlusten und Verletzungen an Eis oder Felsen.
Le Duc und ihre Kollegen konnten durch vergleichende DNA-Analysen herausfinden, dass die beiden defekten Lipoxygenase-Gene, die für die Ichthyose verantwortlich sind, bei heutigen Seekühen, die in wärmeren Gebieten leben, voll funktionsfähig sind. Das bedeutet, ihre Haut weist keine Hornschicht auf.
Der funktionelle Verlust sowie die Veränderung bestimmter Gene im Laufe der Evolution half Stellers Seekuh, sich an ein Leben in der rauen und kalten Umgebung anzupassen. Neben der Veränderung der Haut spielten bei der Anpassung auch der Energiestoffwechsel und die Regulation des Körpergewichts eine Rolle. So konnte sich die Stellersche Seekuh mit einer bis zu zehn Zentimeter dicken Fettschicht in der Unterhaut vor Auskühlung schützen und gleichzeitig war es ihr möglich, Energiereserven für Zeiten, in denen es wenig oder keine Nahrung gab, anzusparen. Seetang gab es nämlich nur im Sommerhalbjahr, im Winter mussten die Seekühe von ihren Fettdepots leben.
27 Jahre nach ihrer Entdeckung bereits ausgerottet – die Stellersche Seekuh
Bereits 27 Jahre nach der Entdeckung durch Bering und seine Mannschaft war Stellers Seekuh bereits ausgerottet. Die Weltnaturschutzorganisation IUCN schreibt, dass Steller eine der letzten Populationen der Riesenseekuh gefunden hatte. Es handelte sich also schon zu jener Zeit um eine gefährdete Spezies.
Die Tierart war einst weiter verbreitet. Vermutlich existierte im 18. Jahrhundert mindestens noch eine Population auf den Aleuten, eine Inselkette in Alaska. Zudem gibt es Hinweise, dass die Tiere vor mehr als tausend Jahren auch im nördlichen Beringmeer lebten.
Die Ursache für die schnelle Ausrottung der Riesenseekuh war die Bejagung durch den Menschen, denn die Tiere waren sehr friedlich und stellten eine einfache Beute dar. Die Seekühe hatten fast keinen kommerziellen Wert, wurden aber dennoch aufgrund ihres Fleisches massenhaft getötet: „Eine Riesenseekuh lieferte dreiunddreißig Menschen für einen Monat Fleisch zu Genüge“, so ein Beamter, der 1754 die Beringinsel besuchte. Laut IUCN wurde die Haut der Seekuh auch als Leder verwertet.
Den Beschreibungen Stellers zufolge, war die Fortpflanzungsrate der Stellerschen Seekuh sehr gering, was auch zum schnellen Verschwinden der Art beigetragen haben mag. Die Tragzeit betrug länger als ein Jahr und Mehrlingsgeburten gab es vermutlich nicht, so Hans Rothauscher in seiner Monographie (2011) mit dem Titel Die Stellersche Seekuh.
In einer 2016 erschienenen amerikanischen Studie von James A. Estes, Alexander Burdin und Daniel F. Doak wird die Theorie aufgestellt, der schnelle Rückgang der Riesenseekühe sei auch mit der starken Bejagung der dortigen Seeotter zu erklären. Durch Verringerung der Otterpopulation sei die Population an Seeigeln angestiegen. Das wiederum habe zu einer Verringerung des Seetangs, der Hauptnahrung der Seekühe, geführt.
Stellers Seekuh gesichtet?
Es heißt, die letzte Seekuh sei 1768 erlegt worden. Trotzdem schrieb Akimuschkin 1981, dass etwa in den Jahren 1803 bis 1806, 1854 und auch noch 1910 an unterschiedlichen Orten lebende und tote Riesenseekühe gesichtet worden sind.
Selbst bis in die heutige Zeit, so Rothauscher, gibt es immer wieder Meldungen angeblicher Seekuh-Sichtungen im Nordmeer. An der Bucht von Anadyr, nördlich Kamtschatkas, wurden 1962 etwa Tiere gesehen, die Seekühen ähnelten. Oder 1977 will ein Fischer ein vor Kamtschatka im Wasser treibendes Tier berührt haben.
Aus einer Meldung aus dem Jahr 2006 geht hervor, dass der Kryptozoologe Loren Coleman einen Artikel mit dem Titel A manatee, off our coast?, der im Chinook Observer von Long Beach, Washington State, USA erschien, mit der möglichen Existenz von Seekühen in Verbindung bringt.
Trotz aller angeblicher Sichtungen konnte bis heute kein Beweis dafür geliefert werden, dass die Stellersche Seekuh überlebt hat. Bei einigen Sichtungen geht man davon aus, dass es sich um Verwechslungen mit weiblichen Narwalen handelt.
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