Ein Zufallsfund brachte ihm einen eigenen Namen ein
Am 24. August 1832 ging die HMS Beagle in der Provinz Bahía Blanca im östlichen Argentinien vor Anker. An Bord des Schiffes: der damals 23-jährige britische Naturforscher Charles Darwin. Er sammelte während der Reise Gesteinsproben, Pflanzen, Meerestiere und eine Menge Käfer. Die gesammelten Exemplare schickte er, teils eingelegt in Konservierungsmittel, in seine Heimat nach Cambridge.
Zwischen dem 6. September und dem 17. Oktober 1832 entdeckte Darwin an der Küste der Bahía Blanca einen ungewöhnlich großen Kurzflügler (Staphylinidae) mit langem, segmentiertem Körper und einem blaugrün leuchtenden Kopf. Diesen merkwürdigen Käfer schickte er abermals, zusammen mit zahlreichen fossilen Tierfunden aus einer nahe gelegenen Bucht, nach England.
Erst 180 Jahre nachdem Darwin den Käfer in Argentinien gesammelt hatte, so Christopher Kemp in Die verlorenen Arten (2019), fand der Entomologe Stelios Chatzimanolis das Tier 2012 wieder. Er forderte nämlich während einer Neubewertung der Gattung Trigonopselaphus, einer kleinen Gruppe von Kurzflüglern, vom National History Museum in London das nicht genau bestimmte Material der Gattung an. Er erhielt daraufhin eine Schachtel mit 24 auf Nadeln aufgespießte Käfer – einer davon war Darwins Kurzflügelkäfer, der offensichtlich einer falschen Gattung zugeordnet wurde.
Chatzimanolis sah sofort, dass der eine Käfer den anderen in keiner Weise glich: Er war größer, sein Kopf war blaugrün statt dunkelbraun oder schwarz und seine Antennen waren gezackt wie eine Säge, eine Eigenschaft, die in dieser Form kaum keine andere Tierart und schon gar kein Kurzflügler aufweist.
Darwins Kurzflügelkäfer – Steckbrief
wissenschaftlicher Name | Darwinilus sedarisi |
englischer Name | Darwin’s Rove Beetle |
ursprüngliches Verbreitungsgebiet | Argentinien |
Zeitpunkt des Aussterbens | unklar, zwischen 1832 und 1935 |
Ursachen für das Aussterben | möglicherweise Lebensraumverlust |
Wo steckte Inventarnummer 708 fast zwei Jahrhunderte lang?
Darwins Kurzflügelkäfer ging in einer riesigen, seit Jahrhunderten aufgebauten Sammlung zwischen unzähligen Insekten unter. Wird ein Insekt als eines von Millionen Exemplaren einmal falsch zugeordnet, gehen die Chancen, genau dieses Tier wiederzufinden, gegen null.
Noch 1987 wurde der männliche Käfer, dem Darwin seinerzeit die Inventarnummer 708 gegeben hatte, im Artikel Darwin’s Insects: Charles Darwin’s Entomolocial Notes als vermisst aufgeführt, womit sich allerdings der Insektenforscher Alexei Solodownikow nicht zufrieden geben wollte. Er begann, nach dem vermissten Käfer zu suchen und tatsächlich fand er ihn 2008 im Londoner Museum in unsortiertem Staphylinidae-Material. Fälschlicherweise brachte Solodownikow das Exemplar dann aber bei weiteren unsortierten Käfern der Gattung Trigonopselaphus unter, wo ihn schließlich Chatizmanolis vier Jahre später zufällig wiederentdeckte.
Im Februar 2014 verlieh Chatzimanolis dem ungewöhnlichen Käfer den Namen: Darwinilus sedarisi, der sowohl Darwin als auch den US-Schriftsteller David Sedaris ehrte, dessen Hörbüchern Chatzimanolis lauschte, als er die Erstbeschreibung des Insekts für das Fachjournal ZooKeys verfasste.
Weil es üblich und verlässlicher ist, eine neue Spezies nicht nur anhand eines Exemplars zu beschreiben, suchte Chatzimanolis nach weiteren Kurzflüglern, wie Darwin ihn einst in Argentinien fand. Er hatte Glück: Er entdeckte einen Paratyp, den er neben dem Holotyp beschreiben konnte, im Museum für Naturkunde in Berlin. Das männliche Exemplar war beschädigt und stammt von einem Sammler namens Breuer, der den Käfer am Río Cuarto in der argentinischen Provinz Córdoba, knapp 800 Kilometer nördlich von Bahía Blanca, gesammelt hatte.
Da der deutsche Entomologe Walther Horn den Käfer in einem seiner Bücher, das 1935 veröffentlicht wurde, erwähnt, muss Breuer das Tier vor 1935 gefangen haben. Mehr weiß man über die Umstände, wie und wann der Käfer nach Berlin ins Museum gelangte, nicht.
Darwins Kurzflügelkäfer: Vermisst oder ausgestorben?
Heute kann niemand mit Bestimmtheit sagen, ob Darwins Kurzflügelkäfer einfach nur vermisst wird oder ob er bereits ausgestorben ist. Ziemlich sicher ist, dass keiner, der sich mit Käfern auskennt und ihn als ungewöhnlich erkennen könnte, in den letzten 100 Jahren gesehen hat. Nicht auszuschließen ist, dass er einer verborgenen Lebensweise frönt, denn einige verwandte Arten leben ebenfalls versteckt und bewohnen Ameisenbauten oder Bauten von anderen Hautflüglern (Hymenoptera).
Ebenso wahrscheinlich erscheint es, dass der recht große Kurzflügelkäfer ausgestorben ist, denn ein Großteil des Gebiets zwischen den beiden Fundarten Bahía Blanca und Río Cuarto hat der Mensch umgestaltet: Die Wälder wurden abgeholzt und in Ackerflächen umgewandelt. Chatzimanolis selbst hat versucht, weitere dieser Kurzflügelkäfer in anderen Sammlungen zu finden, leider erfolglos. Er neigt dazu, anzunehmen, dass die Art ausgestorben ist, da seine Typuslokalität verschwunden ist. Umso wahrscheinlicher wird diese Annahme, je kleiner das ursprüngliche Verbreitungsgebiet der Spezies war.
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