Nach mehr als vier Jahrzehnten ohne jeden Nachweis galt sie als ausgestorben. Doch im Januar 2023 machten die niederländischen Insektenforscher Rob Felix und Annelies Jacobs im Naturpark Monte Gordo auf der kapverdischen Insel São Nicolau eine überraschende Entdeckung: Im Licht ihrer Taschenlampe saß auf einem felsigen Pfad eine Heuschrecke – unscheinbar, aber mit auffällig kurzem Flügelpaar. Felix erkannte sie sofort: Eyprepocprifas insularis, eine Art, die zuletzt 1980 dokumentiert und 1996 offiziell für ausgestorben erklärt worden war.
Die Begegnung war kein Einzelfall. In den folgenden Tagen fanden die beiden Biologen an insgesamt sechs Fundorten weitere Exemplare – darunter erstmals auch Weibchen und Nymphen. Damit ist klar: Die Monte-Gordo-Heuschrecke hat überlebt – verborgen in den nebelverhangenen Höhenzügen des Parks. Trotz ihrer vergleichsweise weiten Verbreitung innerhalb des Schutzgebiets scheint sie jedoch nur in geringer Dichte vorzukommen. Nach aktuellem Kenntnisstand existieren bis heute keine weiteren Nachweise auf Plattformen wie iNaturalist oder Observation.org.
Ihre Wiederentdeckung wurde inzwischen wissenschaftlich dokumentiert und 2025 in einer Fachstudie im Journal of Orthoptera Research veröffentlicht. Entdeckt wurde die Art ursprünglich im Oktober 1980 vom Entomologen Michel Lecoq im Rahmen eines französischen Forschungsprogramms (PRIFAS), als ein einzelnes Männchen gesammelt werden konnte. Trotz intensiver Suche blieb sie danach jahrzehntelang verschollen. Dass sie nun erneut gefunden wurde, zählt zu den wenigen belegten Fällen einer Wiederentdeckung einer offiziell ausgestorbenen Insektenart.
Endemische Art mit einzigartigen Merkmalen
Die Monte-Gordo-Heuschrecke ist die einzige bekannte kurzflügelige Heuschreckenart, die ausschließlich auf den Kapverdischen Inseln vorkommt. Aufgrund ihres ursprünglichen Körperbaus und ihrer isolierten Entwicklungsgeschichte wird sie als „lebendes Fossil“ bezeichnet. Sie gilt zudem als der bislang einzige eindeutig endemische Vertreter der Heuschrecken (Orthopteren) auf dem Archipel.

(© Christophe Herve, MNHN, Paris)
Morphologisch unterscheidet sich die Art deutlich von verwandten afrikanischen Heuschrecken, was auf eine lange evolutionäre Isolation hinweist. Zu ihren charakteristischen Merkmalen zählen seitlich abgeflachte, nach unten gebogene Cerci beim Männchen – paarige Anhänge am Hinterleibsende, die häufig artspezifisch ausgeprägt sind – sowie eine auffällige Genitalmorphologie.
Besonders auffällig ist die extrem feste und robuste Körperhülle (Cuticula). Bei der wissenschaftlichen Präparation sei ungewöhnlich viel Kraft nötig gewesen, um die Tiere auf Nadeln zu fixieren – ein Hinweis auf eine stark verdickte, wasserverlustmindernde Körperhülle, wie sie bei vielen Insekten als Anpassung an trockene Lebensräume vorkommt.
Die Monte-Gordo-Heuschrecke ist nicht nur ökologisch interessant, sondern auch für die Evolutionsbiologie von hoher Bedeutung. Ihre isolierte Entwicklung, Flugunfähigkeit und das Fehlen naher Verwandter machen sie zu einem potenziellen Modellorganismus für die Erforschung von Anpassungsmechanismen und der Entstehung neuer Arten auf Inseln. Die aktuelle Studie liefert außerdem erstmals eine Beschreibung des bislang unbekannten Weibchens – ein wichtiger Beitrag zur taxonomischen Erfassung dieser seltenen Art.
Die Entstehung der Art wird mit eiszeitlichen Klimaphasen in Verbindung gebracht, in denen der Meeresspiegel deutlich niedriger war und die Inseln näher am afrikanischen Festland lagen. Zwar gab es wahrscheinlich keine direkte Landverbindung, doch könnte die Heuschrecke durch natürliche Transportprozesse – etwa über Wind oder Treibgut – oder durch frühere Flugfähigkeit auf die Insel gelangt sein.
Lebensraum im feuchten Bergnebelwald
Die Monte-Gordo-Heuschrecke wurde bislang ausschließlich in höheren Lagen des Monte-Gordo-Naturparks zwischen 650 und 1.100 Metern Höhe nachgewiesen. Sie besiedelt bevorzugt kühle, nebelreiche Nordosthänge mit felsigem Untergrund. In diesen feuchten Mikrolebensräumen herrschen stabile Bedingungen mit hoher Luftfeuchtigkeit und vielfältiger Vegetation – ideale Voraussetzungen für das Überleben der Art.

(© Rob Felix, aus: Felix et al. (2025), Journal of Orthoptera Research, CC BY 4.0)
Der lebenswichtige Nebel entsteht durch nordöstliche Passatwinde, die in den höheren Lagen kondensieren und das Gebiet mit zusätzlicher Feuchtigkeit versorgen – ein entscheidender Faktor für viele endemische Arten der Kapverden.
Zum typischen Pflanzenbestand dieser Standorte zählen mehrere heimische Arten, darunter die Cabo-Verde-Wolfsmilch (Euphorbia tuckeyana), eine Unterart des Kapverden-Drachenbaums (Dracaena draco subsp. caboverdeana), der Korbblütler Asteriscus smithii sowie Sideroxylon marginatum, ein endemischer Baum aus der Familie der Sapotengewächse. Nymphen der Monte-Gordo-Heuschrecke wurden besonders häufig auf Asteriscus smithii beobachtet – ein Hinweis auf eine mögliche Bindung an bestimmte Wirtspflanzen, deren Bedeutung bislang kaum erforscht ist.
Die heutige Vegetation gilt als Überrest eines einst artenreichen Bergwalds, der eine hohe Vielfalt an Farnen, krautigen Pflanzen und vermutlich auch an spezialisierten Pilzgemeinschaften aufwies.
Kleine Verbreitung, hoher Schutzbedarf
Das bekannte Verbreitungsgebiet der Monte-Gordo-Heuschrecke erstreckt sich aktuell über lediglich zwölf Quadratkilometer im nördlichen Teil des Monte-Gordo-Naturparks. Die Wiederfunde konzentrieren sich auf sechs dokumentierte Fundorte. Die tatsächliche Fläche der Besiedlung (Area of Occupancy, AOO) wurde auf zwölf Quadratkilometer berechnet, während die potenzielle Verbreitung (Extent of Occurrence, EOO) je nach Methodik zwischen vier und 35 Quadratkilometer liegt. Diese Schätzungen basieren auf einer Kombination aus Geländebeobachtungen, Satellitenbildern und einem digitalen Höhenmodell.

(© Rob Felix, aus: Felix et al. (2025), Journal of Orthoptera Research, CC BY 4.0)
Diese stark begrenzte Verbreitung macht die Monte-Gordo-Heuschrecke besonders anfällig gegenüber Veränderungen ihres Lebensraums, extremen Wetterereignissen und menschlichen Einflüssen. Trotz gewisser Anpassungsfähigkeit ist das Überleben der Art eng an den Erhalt geeigneter, feuchter Mikrohabitate geknüpft.
In der Roten Liste der IUCN ist Eyprepocprifas insularis bislang nicht erfasst. Auf Grundlage ihrer geringen Verbreitung und bekannter Bedrohungen schlagen die Autoren der aktuellen Studie jedoch vor, die Art als „gefährdet“ einzustufen. Die Eingabe relevanter Daten in die IUCN-Datenbank (SIS) führte automatisch zur Zuweisung dieser Gefährdungskategorie.
Darüber hinaus empfehlen die Forschenden die Einrichtung eines langfristigen Monitorings, um Populationsentwicklungen zu verfolgen, Umweltveränderungen frühzeitig zu erkennen und den Erfolg von Schutzmaßnahmen systematisch zu überprüfen.
Ursachen des Rückgangs
Die ursprünglichen Bergwälder São Nicolaus haben in den vergangenen 500 Jahren tiefgreifende Veränderungen erfahren. Abholzung, Beweidung, die Einführung nicht-heimischer Pflanzenarten, wiederholte Brände und Erosionsprozesse haben das natürliche Ökosystem nachhaltig geschädigt. Von der einst artenreichen Vegetation sind heute nur noch isolierte Reste erhalten. Auch die feuchten, ökologisch besonders wertvollen Nordosthänge sind teilweise durch großflächige Aufforstungen mit standortfremden Baumarten wie Kiefern, Eukalyptus und Zypressen geprägt.
Bislang ist unklar, in welchen Lebensphasen die Monte-Gordo-Heuschrecke besonders empfindlich auf diese Habitatveränderungen reagiert. Die neue Studie weist darauf hin, dass auch der Rückgang bestimmter Pilzarten als möglicher Nahrungsfaktor eine Rolle spielen könnte – ein bislang kaum untersuchter Zusammenhang. Tatsächlich rückt die Bedeutung von Pilzen als Nahrungsquelle für Heuschreckenarten zunehmend in den Fokus ökologischer Forschung.
Konsequenzen für den Artenschutz
Die Wiederentdeckung der Monte-Gordo-Heuschrecke verdeutlicht die dringende Notwendigkeit gezielter Schutzmaßnahmen im Naturpark Monte Gordo. Bereits laufende Programme zur Wiederaufforstung mit einheimischen Pflanzenarten und zur Regulierung der Weide- und Landnutzung bilden eine wichtige Grundlage, sollten jedoch weiter ausgebaut werden. Besonders feuchte, nordostexponierte Hanglagen mit naturnaher Vegetation gelten als zentrale Rückzugsräume für die Art und verdienen besondere Priorität bei künftigen Schutzbemühungen – so die Empfehlung der Studienautoren.

(© Rob Felix, aus: Felix et al. (2025), Journal of Orthoptera Research, CC BY 4.0)
Zugleich besteht erheblicher Forschungsbedarf: Informationen zu Populationsgröße, Lebensweise, Fortpflanzungsbiologie und konkreten Bedrohungsfaktoren fehlen weitgehend. Vergleichende Studien auf anderen kapverdischen Inseln – etwa Santo Antão – könnten helfen, unentdeckte oder verwandte Populationen zu identifizieren und die biogeografische Geschichte der Art besser zu verstehen.
Trotz der bestehenden Risiken zeigt die Monte-Gordo-Heuschrecke eine bemerkenswerte ökologische Widerstandskraft. Sie wurde nicht nur in naturnahen, sondern auch in teilweise degradierten Lebensräumen nachgewiesen. Während der Wiederentdeckung dokumentierten die Wissenschaftler zudem mehrere bislang nicht erfasste Insektenarten – darunter drei Heuschreckenarten, die erstmals auf den Kapverden nachgewiesen wurden. Dies unterstreicht das hohe, bislang unerschlossene Forschungspotenzial der Insektenfauna des Archipels.
Ein Blick über São Nicolau hinaus zeigt, dass Wiederentdeckungen kein Einzelfall sind: Auch in anderen Teilen der Welt, wie etwa in den USA, wurde kürzlich mit Appalachia hebardi eine ausgestorben geglaubte Heuschreckenart wiedergefunden – ein weiteres Beispiel dafür, dass manche Arten trotz jahrzehntelanger Abwesenheit in isolierten Rückzugsräumen überleben können.
Quelle
- Felix, R., Jacobs, A., & Lecoq, M. (2025). Rediscovery of the Monte Gordo Grasshopper Eyprepocprifas insularis: An ancient brachypterous species endemic to São Nicolau, Cape Verde (Orthoptera, Eyprepocnemidinae). Journal of Orthoptera Research, 34, 61–72. https://doi.org/10.3897/jor.34.144016
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