Sie zählt zu den seltensten Schildkrötenarten der Welt – möglicherweise ist sie sogar die seltenste überhaupt: die Jangtse-Riesenweichschildkröte (Rafetus swinhoei). Die Art ist akut vom Aussterben bedroht und in der Wildnis womöglich bereits verschwunden. Derzeit sind weltweit nur zwei männliche Exemplare bekannt. Und besteht ein letzter Hoffnungsschimmer: In China wird derzeit mit allen Mitteln versucht, noch ein überlebendes Tier in freier Wildbahn aufzuspüren – mit Unterstützung der Öffentlichkeit und einer hohen Belohnung.
100.000 Yuan für ein Foto
Im Mai 2025 startete die chinesische NGO Endangered Species Fund eine ungewöhnliche und öffentlichkeitswirksame Kampagne: 100.000 Yuan – etwa 12.000 Euro – werden demjenigen versprochen, der ein verlässliches Foto oder Video einer wildlebenden Jangtse-Riesenweichschildkröte vorlegen kann. Der Aufruf verbreitete sich rasch über soziale Netzwerke, und es gingen Hunderte Einsendungen ein. Doch keine zeigte ein echtes Exemplar. Stattdessen fanden sich unter den Bildern zahlreiche Haustierschildkröten, Tiere aus Tempelteichen, unscharfe Aufnahmen oder schlichtweg aus dem Internet kopierte Fotos. Die meisten stammten zudem von anderen Arten – etwa der Chinesischen Weichschildkröte (Pelodiscus sinensis) oder der Ganges-Weichschildkröte (Nilssonia gangetica).
Ein zentrales Problem bei der Sichtung der Einsendungen: Niemand weiß genau, wie Jungtiere der Jangtse-Riesenweichschildkröte aussehen. Alle bekannten Individuen waren ausgewachsen. Es ist daher gut möglich, dass jüngere Tiere in der Vergangenheit übersehen oder fälschlich anderen Arten zugeordnet wurden – und dadurch nie gezielt geschützt werden konnten.
Trotz der bislang enttäuschenden Ergebnisse bewertet Zhang Xiaolei, Leiter der NGO, die Kampagne positiv. Gegenüber Sixth Tone erklärte er: „Viele Menschen wussten vorher nichts über diese Schildkröten. Jetzt interessieren sie sich für deren Schutz.“
Zhang begleitet die Schutzbemühungen rund um die Art seit 2019. Mit seinem kleinen Team hat er zahlreiche Suchaktionen in Süd- und Zentralchina durchgeführt – oft unter schwierigen Bedingungen, mit kaum vorhandenen Mitteln. Derzeit konzentrieren sich die Hoffnungen auf das abgelegene Honghe-Becken in der südwestchinesischen Provinz Yunnan, das als möglicher letzter Rückzugsort der Art gilt.
Über die Jangtse-Riesenweichschildkröte

(© haithanh, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons)
Die Jangtse-Riesenweichschildkröte gilt als eine der beeindruckendsten und zugleich am stärksten bedrohten Süßwasserschildkröten der Welt. Mit Körperlängen von über einem Meter und einem Gewicht von mehr als 100 Kilogramm ist sie vermutlich die größte bekannte Süßwasserschildkrötenart. Ihre Lebenserwartung liegt bei über 100 Jahren. Der flache, lederartige Panzer und der weiche Körperbau sind ideale Anpassungen an das Leben am Grund großer Flüsse. Obwohl sie in ihrer Bewegungsweise eher behäbig wirkt, ist sie unter Wasser überraschend agil.
Historisch war Rafetus swinhoei in weiten Teilen des Jangtse-Flusssystems in China verbreitet, ebenso im nördlichen Vietnam im Einzugsgebiet des Roten Flusses. In Südchina wurde die Art auch in den Regionen Gejiu, Yuanyang, Jianshui und im Honghe-Becken nachgewiesen. Zwischen 1999 und 2005 kam es zu mehrfachen Sichtungen im Hoan-Kiem-See in Hanoi. Ein dort 2011 eingefangenes, verletztes Exemplar starb jedoch Anfang 2016. Einige vietnamesische Forschende hatten es zeitweise als eigene Art beschrieben (Rafetus leloii), doch heute gehen die meisten Fachleute davon aus, dass es sich lediglich um ein Synonym für Rafetus swinhoei handelt.
Die Ursachen für den enormen Rückgang der Jangtse-Riesenweichschildkröte sind vielfältig: Flussregulierungen, Begradigungen, die Trockenlegung von Feuchtgebieten und der Bau zahlreicher Staudämme haben ihren Lebensraum stark eingeschränkt. Hinzu kommen zunehmende Wasserverschmutzung und der Verlust geeigneter Eiablageplätze. Darüber hinaus wurde die Art über Jahrzehnte hinweg intensiv bejagt – sowohl zur Fleischgewinnung als auch für den Einsatz in der traditionellen chinesischen Medizin. Die Folge: Ein dramatischer Populationsrückgang, der schließlich dazu führte, dass nur noch wenige Einzelexemplare überlebten – zu wenig, um sich aus eigener Kraft zu erholen.
Letzte bekannte Individuen: Zwei Männchen
Weltweit sind aktuell nur noch zwei lebende Exemplare der Jangtse-Riesenweichschildkröte bekannt – beide männlich. Eines davon, mit dem Spitznamen „Susu“, lebt im Suzhou Shangfangshan Forest Animal World in Ostchina und ist vermutlich über 100 Jahre alt. Das zweite Tier bewohnt den Xuân-Khanh-See im Norden Vietnams. Das letzte bekannte Weibchen wurde im April 2023 tot im nahegelegenen Dong-Mo-See entdeckt. Bereits 2019 war ein weiteres weibliches Exemplar nach mehreren erfolglosen Versuchen künstlicher Befruchtung gestorben. Seit dem Verlust beider Weibchen scheint eine natürliche oder unterstützte Fortpflanzung nicht mehr möglich zu sein.
Ein Prozent Hoffnung

(© en:John Edward Gray and/or G.H. Ford, Public domain, via Wikimedia Commons)
Trotz aller Rückschläge bleibt Zhang Xiaolei optimistisch: „Die Chance, ein wildlebendes Exemplar zu finden, liegt vielleicht nur bei einem Prozent – aber wenn es gelingt, wäre das ein Durchbruch.“ Selbst wenn die Suche erfolglos bleibt, sieht Zhang die Kampagne bereits jetzt als Erfolg. Sie habe öffentliche Aufmerksamkeit auf das Schicksal einer nahezu vergessenen Art gelenkt – und zugleich auf die Bedrohung vieler weiterer Schildkrötenarten in China.
Gleichzeitig macht die Aktion strukturelle Defizite im Artenschutz deutlich: Es fehlt an wissenschaftlicher Forschung, an erfahrenem Fachpersonal mit Felderfahrung sowie an langfristiger Finanzierung. Selbst punktuelle Erhebungen finden häufig unkoordiniert und ohne nachhaltige Unterstützung statt.
Doch es gibt auch Kritik an der Belohnungsaktion. Wen Cheng von der IUCN-Spezialistengruppe für Schildkröten warnt vor möglichen negativen Folgen: Belohnungskampagnen könnten zu Wildfängen verleiten, Lebensräume stören oder einheimische Arten gefährden – insbesondere, wenn Tiere falsch bestimmt werden. Da selbst Fachleute Schwierigkeiten haben, Jungtiere der Jangtse-Riesenweichschildkröte von der häufigeren Chinesischen Weichschildkröte zu unterscheiden, könnten Laien durch gut gemeinte Meldungen unbeabsichtigt Schaden anrichten. Wen plädiert daher für langfristig angelegte, wissenschaftlich begleitete Monitoringprogramme.
Für Zhang ist der öffentliche Rückhalt dennoch entscheidend – gerade in einem Bereich, dem es an Aufmerksamkeit und Ressourcen mangelt: „China beheimatet über 20 Schildkrötenarten, viele davon sind vom Aussterben bedroht. Wenn wir es schaffen, mehr Menschen für ihren Schutz zu sensibilisieren, ist schon viel gewonnen.“
Vor Kurzem erreichte Zhang übrigens ein neuer Hinweis aus der Provinz Yunnan: Dort soll eine große Schildkröte gesichtet worden sein. Er plant, der Spur Ende Juni oder Anfang Juli persönlich nachzugehen.
Was kann noch getan werden?
Die Zukunft der Jangtse-Riesenweichschildkröte wirkt düster, doch sie ist noch nicht völlig aussichtslos. Sollte es tatsächlich bislang unentdeckte Individuen in abgelegenen Tempelteichen, Rückzugsgewässern oder wenig erforschten Regionen geben, könnten gezielte genetische Untersuchungen und langfristige Zuchtprogramme neue Perspektiven eröffnen. Voraussetzung dafür wäre jedoch ein rechtzeitiger Nachweis überlebender Tiere.
Auch die internationale Zusammenarbeit spielt dabei eine zentrale Rolle: Der Austausch genetischer Daten, gemeinsame Monitoringprojekte und die Schulung lokaler Fachkräfte könnten den Schutz und die Erforschung der Art erheblich voranbringen.
Entscheidend ist jedoch vor allem eines: mehr öffentliche Aufmerksamkeit, deutlich mehr finanzielle Mittel für Forschung und Arterhalt und ein effektiver Schutz der verbliebenen Lebensräume. Denn was der Jangtse-Riesenweichschildkröte hilft, könnte auch zahlreichen anderen gefährdeten Schildkrötenarten zugutekommen.
Quelle
- He, Q. (17. Juni 2025). Shell game: In China, a $14K reward for a turtle that may be extinct. Sixth Tone.
https://www.sixthtone.com/news/1017233
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