Ohne Insekten würden unsere Ökosysteme aus dem Gleichgewicht geraten: Sie bestäuben Pflanzen, zersetzen organisches Material, sorgen für fruchtbare Böden, liefern Honig und Seide – und sind eine unverzichtbare Nahrungsquelle für zahllose Tiere. Dennoch ist das Insektensterben weltweit ein drängendes Thema. Seit der Krefelder Studie von 2017, die einen Rückgang fliegender Insekten um mehr als 75 Prozent in Deutschland dokumentierte, hat das Thema zunehmend die Aufmerksamkeit der Forschung erlangt. Auch eine jüngere Untersuchung aus den USA zeigt, dass selbst häufige Schmetterlingsarten betroffen sind – rund ein Fünftel der Populationen ist in den letzten zwei Jahrzehnten verschwunden.
Während einige Studien, wie etwa die viel diskutierte Untersuchung der Universität Würzburg aus dem Jahr 2023, kurzfristige Wetterextreme als Hauptursache für den Rückgang der Insekten benennen, widersprechen internationale Analysen zunehmend dieser Sichtweise.
Eine 2025 im Fachjournal Nature veröffentlichte Studie zeigt deutlich: Witterungseinflüsse erklären nur einen kleinen Teil der beobachteten Rückgänge – etwa 20 Prozent. Der langfristige Abwärtstrend der Insektenpopulationen ist vielmehr auf menschenverursachte Faktoren wie Lebensraumzerstörung, Pestizideinsatz, Monokulturen und Stickstoffeinträge zurückzuführen.
Die neue Studie
Trotz der Vielzahl an Studien fehlt bislang ein umfassender Überblick: Welche Ursachen für das Insektensterben werden überhaupt genannt und wie hängen sie miteinander zusammen?
An dieser Stelle setzt eine umfangreiche Analyse an, die im April 2025 im Fachjournal BioScience veröffentlicht wurde. Ein Forschungsteam der Binghamton University hat über 175 wissenschaftliche Übersichtsarbeiten ausgewertet und daraus mehr als 500 Hypothesen zum Insektensterben extrahiert. Diese wurden in einem komplexen Netzwerk von über 3.000 möglichen Wechselwirkungen und 108 Knoten dargestellt – ein Beleg dafür, wie stark die verschiedenen Einflussfaktoren miteinander vernetzt sind.
Im Vergleich zur umstrittenen Würzburger Studie, deren Methodik (wechselnde Standorte, künstlich artenreiche Waldränder) kritisiert wurde, basiert die US-amerikanische Metaanalyse auf einer systematischen Auswertung von über 175 Fachpublikationen weltweit. Sie liefert damit eine robustere Datenbasis, um Ursachen zu gewichten und Wechselwirkungen sichtbar zu machen.
Mehr als ein Auslöser: Das Insektensterben ist ein vernetztes Problem

Im Zentrum des neu kartierten Ursachennetzwerks steht nach wie vor die intensive Landwirtschaft – insbesondere in Form von Landnutzungswandel, Pestizideinsatz und dem Verlust naturnaher Lebensräume. Doch die Studie macht deutlich: Das Insektensterben lässt sich nicht auf eine einzelne Ursache zurückführen. Vielmehr handelt es sich um ein komplexes Geflecht wechselseitiger Einflüsse, das sich gegenseitig verstärkt. Neben landwirtschaftlichen Faktoren spielen auch Klimastressoren wie Hitzeextreme, Starkregen und Feuer eine Rolle, ebenso wie Urbanisierung, Lichtverschmutzung, invasive Arten oder industrielle Verschmutzung.
Besonders problematisch ist dabei nicht nur die Vielzahl der Belastungen – sondern ihre gleichzeitige und sich gegenseitig verstärkende Wirkung. Dieses Zusammenspiel untergräbt die Widerstandsfähigkeit vieler Insektenpopulationen und macht gezielte Schutzmaßnahmen umso schwieriger.
Auffällig ist zudem, dass habitatbezogene Stressoren – obwohl sie im Netzwerk der Einflussfaktoren eine zentrale Rolle spielen – in der wissenschaftlichen Literatur bislang vergleichsweise selten thematisiert wurden. Nach Einschätzung der Studienautoren zeigt sich hier ein deutlicher Forschungsrückstand – insbesondere im Vergleich zur umfangreichen Literatur zu anderen Stressoren wie Pestiziden oder Klimawandel.
Dass die Zerstörung und Verschlechterung von Lebensräumen eine der Hauptursachen für den Rückgang der Insekten ist, bestätigen auch andere aktuelle Untersuchungen – etwa die Nature-Studie von 2025. Besonders besorgniserregend: Selbst Schutzgebiete bieten vielerorts keinen verlässlichen Rückzugsraum mehr, wenn sie von intensiv bewirtschafteten Agrarflächen umgeben sind. Die Metaanalyse der Binghamton University unterstreicht diesen Befund. Sie zeigt, dass habitatbezogene Einflüsse im Ursachennetzwerk eine zentrale Rolle spielen – in der wissenschaftlichen Literatur bislang jedoch erstaunlich wenig Beachtung finden.
Hinzu kommt, dass viele potenzielle Gefahrenquellen, die in anderen Bereichen der Biodiversitätsforschung längst berücksichtigt werden – darunter Naturkatastrophen, militärische Konflikte, Verkehrsinfrastruktur oder andere menschliche Störungen –, in der wissenschaftlichen Literatur zum Insektenrückgang kaum auftauchen. Obwohl diese Stressoren in der offiziellen IUCN-Liste potenzieller Bedrohungen ausdrücklich aufgeführt sind, bleiben sie in vielen Studien unberücksichtigt. Es handelt sich dabei oft um sogenannte mechanistische Ursachen – also konkrete, direkt wirkende Faktoren –, die bislang kaum wissenschaftlich erfasst wurden.
Dass viele dieser Faktoren bereits in internationalen Gefährdungslisten verzeichnet sind, zeigt: Ihre politische und konzeptionelle Relevanz ist längst anerkannt. Nach Ansicht der Studienautoren ist es daher umso dringlicher, dass auch die Forschung diese Lücken schließt – und ein vollständigeres Bild der Ursachen entsteht.
Einseitiger Fokus auf charismatischen Arten

(© Orangeaurochs from Sandy, Bedfordshire, United Kingdom, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons)
Die Metaanalyse zeigt auch, dass die wissenschaftliche Aufmerksamkeit stark auf auffällige und ökonomisch bedeutende Insektenarten konzentriert ist – allen voran Bienen und Schmetterlinge. Diese sogenannten „charismatischen Arten“ sind gut erforscht, medienwirksam und für die Landwirtschaft relevant. Doch sie machen nur einen Bruchteil der globalen Insektenvielfalt aus.
Diese einseitige Fokussierung hat Folgen: Schutzmaßnahmen, Forschungsförderung und öffentliche Aufmerksamkeit richten sich häufig auf genau diese Gruppen – während zahlreiche andere Arten, etwa Käfer, Fliegen oder bodenlebende Insekten, weitgehend übersehen werden. Dabei spielen gerade diese „unscheinbaren“ Insekten eine zentrale Rolle für das ökologische Gleichgewicht, zum Beispiel bei der Zersetzung, Bodenbildung oder Schädlingsregulation.
Die Autoren der Studie warnen: Ein überproportionaler Fokus auf einzelne Arten(gruppen) kann dazu führen, dass Schutzmaßnahmen ineffektiv oder sogar kontraproduktiv für weniger beachtete Insektengruppen sind. Notwendig sei daher ein umfassenderer, systemischer Blick auf die Insektenvielfalt als Ganzes – unabhängig von ihrer medialen oder wirtschaftlichen Attraktivität.
Ein neuer Blick auf alte Fragen
Die Studie benennt keinen einzelnen „Schuldigen“ – sie liefert eine neue Perspektive. Anstatt Ursachen isoliert zu betrachten, macht sie die vielschichtige Verflechtung sichtbar, die dem Insektensterben zugrunde liegt. Es ist kein linearer Prozess mit eindeutiger Ursache, sondern ein komplexes Zusammenspiel zahlreicher Stressoren, die sich gegenseitig beeinflussen, verstärken – und schwer voneinander zu trennen sind.
Gleichzeitig zeigt die Studie das Potenzial der Meta-Synthese als wissenschaftliche Methode. Durch die systematische Kartierung von Forschungsergebnissen entsteht ein Überblick über bestehende Erkenntnisse, wiederkehrende Muster und Forschungslücken. Dieser Ansatz eignet sich nicht nur zur Analyse des Insektensterbens, sondern auch für andere Bereiche der Biodiversitätsforschung – überall dort, wo viele Einzelstudien vorliegen, aber der Blick aufs Ganze fehlt.
Die Analyse liefert eine fundierte Grundlage für künftige Metaanalysen und kann helfen, bisher wenig beachtete Ursachen und Zusammenhänge gezielter zu erforschen. Gerade im Kontext von Agrarreformen, Schutzgebietsplanung oder Förderprogrammen kann ein solcher Überblick entscheidend sein, um wissenschaftliche Erkenntnisse in politisches Handeln zu übersetzen – und komplexe Probleme wie den Insektenrückgang ganzheitlich anzugehen.
Was folgt daraus?
Die neuen Erkenntnisse aus den USA fügen sich nahtlos in ein wachsendes Bild internationaler Forschung ein: Das Insektensterben ist kein Zufallsprodukt extremer Wetterereignisse, sondern Ausdruck eines komplexen, menschengemachten Belastungsszenarios.

Landwirtschaftliche Intensivierung, der Verlust naturnaher Lebensräume, Pestizideinsatz, Lichtverschmutzung und der Klimawandel wirken nicht isoliert – sie greifen ineinander, verstärken sich gegenseitig und untergraben so die Widerstandskraft ganzer Insektengemeinschaften. Gerade diese Vielschichtigkeit macht den Insektenschutz so herausfordernd – und so dringlich.
Ein wirksamer Schutz kann sich deshalb nicht auf symbolische Einzelmaßnahmen wie Blühstreifen oder punktuelle Pestizidverbote beschränken. Gefragt ist ein systemischer Ansatz, der die Wechselwirkungen verschiedener Stressoren berücksichtigt – ebenso wie die Vielfalt der betroffenen Insektengruppen, von denen viele bisher kaum erforscht sind.
Die Metaanalyse der Binghamton University liefert hierfür eine wertvolle Grundlage. Sie macht deutlich, wie wichtig es ist, Ursachen nicht einzeln zu betrachten, sondern in ihrer Gesamtheit. Wer das Insektensterben wirksam bekämpfen will, muss über disziplinäre und politische Grenzen hinwegdenken – und die Komplexität als Ausgangspunkt für gezielte Strategien begreifen.
Die kartierte Übersicht der Einflussfaktoren kann dabei helfen, politische Maßnahmen zielgerichteter zu gestalten: durch die Priorisierung besonders wirkmächtiger Stressoren, die Förderung integrierter Schutzkonzepte oder den Ausbau langfristiger Monitoring-Programme. Diese Studie kann damit als Werkzeug für einen zukunftsfähigen Insektenschutz dienen.
Was die Studie zeigt – in fünf Punkten
- Insektensterben ist komplex:
Es gibt nicht die eine Ursache, sondern ein Netzwerk aus über 500 miteinander verknüpften Einflussfaktoren. - Landwirtschaft steht im Zentrum:
Agrarintensivierung, Pestizide und Habitatverlust zählen zu den häufigsten Ausgangspunkten im Ursachennetzwerk. - Viele Stressoren sind unterschätzt:
Habitatbezogene Einflüsse, Naturkatastrophen oder menschliche Störungen (etwa Infrastruktur) sind stark wirksam – aber in der Forschung bislang unterrepräsentiert. - Fokus auf „Lieblingsarten“ verzerrt das Bild:
Bienen und Schmetterlinge sind gut erforscht – doch andere Insektengruppen, etwa Käfer oder Bodeninsekten, werden oft übersehen. - Ganzheitliches Denken ist gefragt:
Einzelmaßnahmen reichen nicht aus. Die Studie liefert eine Grundlage für ganzheitlichen Insektenschutz – wissenschaftlich fundiert und politisch relevant.
Quellen
- Brhel, J. (2025, April 22). Insects are disappearing due to agriculture – and many other drivers, new research reveals. Binghamton University News. https://www.binghamton.edu/news/story/5513/insects-are-disappearing-due-to-agriculture-and-many-other-drivers-new-research-reveals
- Halsch, C. A., Swenson, N. G., & Grames, E. M. (2025). Meta-synthesis reveals interconnections among apparent drivers of insect biodiversity loss. BioScience. https://doi.org/10.1093/biosci/biaf034
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