Socorrotaube – eine Studie zeigt, das Artensterben verlangsamt sich, die Socorrotaube ist dennoch in der Wildnis ausgestorben
Socorrotaube – endemisch auf der mexikanischen Insel Socorro, seit den 1970er-Jahren in freier Wildbahn erloschen. Dank internationaler Zuchtprogramme, unter anderem in Frankfurt und Chester, bestehen heute realistische Chancen auf eine Wiederansiedlung in ihrem ursprünglichen Lebensraum. (© Canva Pro)

Artensterben verlangsamt sich – neue Studie wirft kritischen Blick auf Massensterben-These

Kaum ein Thema steht so sehr für die ökologische Krise unserer Zeit wie das Artensterben. Zahlreiche Studien warnten vor einem rasanten Verlust der Biodiversität und prognostizierten ein mögliches sechstes Massenaussterben. Eine neue Analyse der Biologen Kristen E. Saban und John J. Wiens von der University of Arizona zeichnet nun jedoch ein differenzierteres Bild: Demnach hat sich das Artensterben in den vergangenen 100 Jahren verlangsamt – zumindest in vielen Tier- und Pflanzengruppen.

500 Jahre Artenverluste neu bewertet

Für ihre im Fachjournal Proceedings of the Royal Society B veröffentlichte Studie untersuchten Saban und Wiens die Aussterberaten von 912 Tier- und Pflanzenarten der vergangenen fünf Jahrhunderte. Insgesamt flossen Daten zu rund zwei Millionen Arten weltweit in ihre Untersuchung ein. Ziel war es, die Muster und Ursachen jüngster Aussterben zu erkennen – und herauszufinden, ob sich daraus Rückschlüsse auf heutige und zukünftige Risiken ziehen lassen.

Das Ergebnis: Die meisten Aussterben ereigneten sich im 19. und frühen 20. Jahrhundert. – also in einer Zeit intensiver kolonialer Expansion, Bejagung und Umweltveränderung. Seither sind die Raten vieler Gruppen – darunter Pflanzen, Insekten und Landwirbeltierenicht weiter gestiegen, sondern zeigen eine tendenzielle Verlangsamung. Besonders stark betroffen waren Arten auf Inseln, während auf den Kontinenten vor allem Süßwasserlebensräume die größten Verluste verzeichneten.

Inseln als Brennpunkte des Artensterbens

Neuseeländische Schwarzbrustwachtel - ausgestorben im 19. Jahrhundert
Neuseeländische Schwarzbrustwachtel – eine von vielen isolierten Inselarten, die durch eingeführte Raubtiere und Krankheiten, Bejagung und Lebensraumverlust ausstarb. Sie verschwand im 19. Jahrhundert.
(© Doreen Fräßdorf, Naturkundemuseum Paris, 2024)

Rund zwei Drittel aller dokumentierten Aussterben ereigneten sich auf Inseln. Dort wirkten sich eingeschleppte Tiere wie Ratten, Ziegen oder Katzen besonders verheerend aus: Sie fraßen Eier oder einheimische Tiere, zerstörten Lebensräume und verdrängten endemische Arten, die über Jahrtausende keine Abwehrmechanismen gegen solche Eindringlinge entwickelt hatten.

Zu den Opfern zählen zahlreiche Vogelarten der Hawaiiinseln – etwa der Schwarze Mamo und der Schuppenkehlmoho. Auch der Stephenschlüpfer von der neuseeländischen Insel Stephen Island oder die Schwaneninseln-Ferkelratte von Little Swan Island wurden durch verwilderte Katzen ausgerottet.

Selbst winzige Arten blieben nicht verschont: Auf Hawaii verschwanden unzählige Landschnecken, darunter Achatinella buddii und – erst 2019 offiziell bestätigt – A. apexfulva, nachdem invasive Raubschnecken eingeführt worden waren.

Rabbs Fransenzehen-Laubfrosch
Toughie, der letzte Rabbs Fransenzehen-Laubfrosch, starb 2016. Sein Bild erinnert daran, dass jede ausgestorbene Art ein unwiederbringlicher Verlust ist, und dass Schutzmaßnahmen auch zu spät beginnen können.
Brian Gratwicke from DC, USA, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons)

Auf den Kontinenten dagegen war der Verlust von Lebensräumen der entscheidende Faktor – vor allem durch Abholzung, Landwirtschaft und den Ausbau von Städten. Besonders stark betroffen sind Flüsse und Seen: Der Schwertstör und der Chinesische Flussdelfin aus dem Jangtse in China, beide im 21. Jahrhundert ausgestorben, litten unter Staudammbauten, Gewässerverbauung und der zunehmenden Fragmentierung ihrer Lebensräume. Selbst in Europa gelten heute einige Fischarten als ausgestorben, darunter der Bodensee-Kilch und die Gravenche aus dem Genfersee.

Auch viele Muschel- und Schneckenarten aus nordamerikanischen Süßwasserökosystemen traf ein ähnliches Schicksal. Im Coosa River in Alabama vernichtete der Bau von Staudämmen ganze Lebensgemeinschaften – Arten wie die Muschel Epioblasma penita wurden dabei an den Rand des Aussterbens gedrängt oder vollständig ausgelöscht.

Laut Saban und Wiens stammen rund 30 % der in den letzten 500 Jahren ausgestorbenen Tierarten aus Süßwasserhabitaten, während nur etwa 1 % aus dem Meer verschwand – wobei die tatsächlichen Verluste in den Ozeanen vermutlich unterschätzt werden, da sie deutlich schwieriger zu erfassen sind.

Auch bekannte Säugetiere fielen dieser Entwicklung zum Opfer: der Beutelwolf in Tasmanien und das Quagga, eine Steppenzebra-Unterart aus Südafrika. Beide Arten wurden im 19. und frühen 20. Jahrhundert durch Jagd, Konkurrenz und Lebensraumzerstörung ausgerottet – Beispiele für die Folgen menschlicher Expansion.

Vergangene Aussterben eignen sich nicht als Zukunftsprognose

Die Forschenden warnen ausdrücklich davor, historische Daten unkritisch in die Zukunft zu übertragen. Die Ursachen des Artensterbens haben sich im Laufe der Zeit grundlegend verändert: Während früher vor allem invasive Arten, Bejagung und Übernutzung zum Verschwinden vieler Tier- und Pflanzenarten führten, sind es heute vor allem der Verlust natürlicher Lebensräume und der Klimawandel, die die größte Bedrohung darstellen.

Möglicherweise spielt dabei jedoch auch eine Rolle, dass viele der verletzlichsten Inselarten und die für den Menschen besonders „nützlichen“ oder begehrten Arten bereits ausgelöscht wurden. Das bedeutet: Was heute überlebt, ist nicht automatisch sicher – sondern schlicht das, was dem massiven Druck der Vergangenheit standhalten konnte.

Überraschend stellten Saban und Wiens zudem fest, dass sich in den letzten 200 Jahren keine klare Beschleunigung des Artensterbens durch den Klimawandel nachweisen ließ – ein Hinweis darauf, dass zukünftige Bedrohungen nicht zwangsläufig den Mustern der Vergangenheit folgen.

Artenschutz wirkt – aber die Gefahr bleibt

Das Przewalskipferd zeigt: Artenschutz wirkt.
Przewalski-Pferd – in den 1960er-Jahren in der Wildnis ausgestorben, konnte es dank internationaler Zuchtprogramme wieder in der Mongolei, China und Kasachstan ausgewildert werden.
(© Doreen Fräßdorf, Zoo Prag, 2009)

Trotz der scheinbaren Entschleunigung gibt es keinen Grund zur Entwarnung: Der Verlust biologischer Vielfalt bleibt eines der größten Umweltprobleme unserer Zeit. Besonders stark betroffen sind Weichtiere wie Schnecken und Muscheln sowie viele Wirbeltiere, deren Bestände weiter schrumpfen. Insekten und andere Gliederfüßer scheinen zwar seltener zu verschwinden – doch das liegt vermutlich auch daran, dass ihr Rückgang weniger vollständig dokumentiert ist.

Gleichzeitig macht die Studie von Saban und Wiens deutlich, dass Artenschutz wirken kann. Weltweit zeigen gezielte Maßnahmen Erfolge:

  • Zuchtprogramme wie bei den Riesenschildkröten der Galápagosinseln oder der Hawaiikrähe haben einst verlorene Populationen wiederaufgebaut.
  • Schutzgebiete und internationale Abkommen bremsen die Übernutzung vieler Arten und Lebensräume.
  • Und auf Inseln zeigen Projekte zur Kontrolle invasiver Arten, etwa die Einrichtung raubtierfreier Schutzinseln in Australien, Wirkung.

Diese Fortschritte könnten erklären, warum sich die globalen Aussterberaten in den letzten Jahrzehnten stabilisiert haben. Hinter diesen Erfolgen stehen unzählige Menschen, Organisationen und zoologische Einrichtungen, die tagtäglich daran arbeiten, Arten zu bewahren – oft mit Erfolg.

Beispiele wie die Wiederansiedlung des Przewalski-Pferdes oder der Kalifornischen Kondore zeigen, dass konsequenter Artenschutz ganze Arten zurückbringen kann.

Keine Entwarnung

Auch wenn die Studie den Eindruck vermittelt, dass sich das Artensterben verlangsamt oder sogar zeitweise stabilisiert hat, bleibt die Lage ernst. Weltweit sind weiterhin unzählige Arten bedroht. Laut der Roten Liste der IUCN gelten derzeit fast 11.000 Arten als „vom Aussterben bedroht“, weitere rund 1.400 Arten könnten bereits verschwunden sein.

Die Arbeit von Saban und Wiens ist daher keine Entwarnung, sondern ein Aufruf zu wissenschaftlicher Genauigkeit. Sie zeigt, dass Panik zwar Aufmerksamkeit erzeugt, aber Präzision zu Erkenntnis verhilft. Aussagen über ein „Massenaussterben“ sind nur dann sinnvoll, wenn sie die zeitlichen, räumlichen und ökologischen Unterschiede zwischen vergangenen und heutigen Aussterbeereignissen berücksichtigen.

Eines steht fest: Die Zerstörung natürlicher Lebensräume bleibt die größte Gefahr für die Biodiversität – und sie wird darüber entscheiden, ob die aktuelle Verlangsamung anhält oder in eine neue Welle globaler Verluste übergeht.


Quellen

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