Die Saola (ausgesprochen „sow-la“), auch bekannt als Vũ-Quang-Antilope oder Vietnamesisches Waldrind, gehört zu den seltensten und rätselhaftesten Säugetieren der Welt. Seit ihrer wissenschaftlichen Entdeckung im Jahr 1992 wurde sie kaum je lebend gesehen; der letzte bestätigte Nachweis stammt aus dem Jahr 2013 – aufgenommen von einer Kamerafalle in den nebelverhangenen Bergwäldern der Annamiten an der Grenze zwischen Laos und Vietnam. Ob sie dort überhaupt noch existiert, ist ungewiss.
Wegen ihrer fast mythischen Seltenheit trägt die Saola (Pseudoryx nghetinhensis) den Beinamen „asiatisches Einhorn“. Sie ist das zuletzt entdeckte große Landsäugetier der Erde – nach dem Kouprey 1937 – und womöglich das erste, das wir wieder verlieren. Doch eine neue internationale Studie macht Hoffnung: Forschende haben erstmals das vollständige Erbgut der Saola entschlüsselt – und dabei überraschende Erkenntnisse gewonnen, die neue Wege für ihren Schutz eröffnen könnten.
Genom entschlüsselt – und zwei Populationen entdeckt

(© FunkMonk, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons)
Ein Forschungsteam aus Dänemark und Vietnam arbeitet seit den frühen 1990er-Jahren gemeinsam an der Erforschung der Saola. Nun ist es gelungen, erstmals das komplette Genom dieser äußerst seltenen Art zu entschlüsseln. Grundlage dafür waren Gewebeproben von 26 Tieren, die aus Jagdtrophäen in lokalen Haushalten stammten. Insgesamt wurden 31 historische Proben aus den 1990er-Jahren analysiert, um eine Referenzgenomkarte zu erstellen und populationsgenetische Vergleiche durchzuführen.
Die im Fachjournal Cell veröffentlichten Ergebnisse offenbaren: Es existierten (oder existieren) zwei genetisch stark voneinander abweichende Populationen der Saola, die sich bereits vor 20.000 bis 5.000 Jahren Jahren voneinander getrennt haben – eine bislang völlig unbekannte Tatsache. Die Unterschiede sind so deutlich, dass sie auf eine jahrtausendelange Isolation der beiden Linien schließen lassen. Beide Populationen befinden sich seit dem Ende der letzten Eiszeit in einem kontinuierlichen Rückgang.
Auffällig ist zudem, dass die Genome der Tiere ungewöhnlich lange Abschnitte ohne genetische Vielfalt aufweisen – allerdings unterscheiden sich diese Abschnitte zwischen den beiden Linien. Trotz dieser Verarmung hat sich die Art genetisch stabil gehalten, da besonders schädliche Mutationen offenbar durch einen Prozess namens „genetisches Purging“ über die Zeit eliminiert wurden. Dabei werden schädliche Erbfehler durch natürliche Selektion „herausgefiltert“, wenn sie durch Inzucht zutage treten.
Entscheidend ist dabei: Beide Populationen haben unterschiedliche Anteile ihrer genetischen Vielfalt verloren. Eine gezielte Kombination beider Linien könnte daher das Erbgut gegenseitig ergänzen – und damit die Überlebensfähigkeit der Art deutlich erhöhen. Ein im Rahmen der Studie entwickeltes Modell zeigt, dass eine stabile Zukunft für die Saola möglich wäre – vorausgesetzt, es gelingt, lebende Tiere aus beiden Populationen zu finden und in einem Zuchtprogramm zu vereinen.
Die Forschenden schätzen, dass die Gesamtpopulation der Saola in den letzten 10.000 Jahren nie mehr als etwa 5.000 Individuen umfasste. Laut IUCN sind heute vermutlich weniger als 250 geschlechtsreife Tiere übrig – die größte bekannte Teilpopulation besteht aus weniger als 50.
Chance auf Rettung durch Zuchtprogramm

Aufnahmen wie diese stammen meist aus kurzfristigen Gefangensituationen in den 1990er-Jahren, etwa in Laos oder Vietnam. Seit über einem Jahrzehnt fehlt jede bestätigte Sichtung in freier Wildbahn.
(© The original uploader was Silviculture at Vietnamese Wikipedia., CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons)
Die Forschenden modellierten verschiedene Szenarien für den Erhalt der Saola. Das Ergebnis: Die besten Überlebenschancen hätte die Art, wenn mindestens zwölf fortpflanzungsfähige Tiere – idealerweise aus beiden genetischen Linien – in einem kontrollierten Zuchtprogramm zusammengeführt würden. Auf dieser Grundlage ließe sich eine genetisch vielfältige Gründerpopulation aufbauen.
Doch genau darin liegt das größte Problem: Zunächst müssten überhaupt lebende Saolas gefunden werden. Trotz intensiver Suchaktionen seit den 1990er-Jahren blieb der Erfolg bisher aus – selbst damals, als der Bestand noch höher war. Kein Wissenschaftler hat je eine Saola in in ihrem natürlichen Lebensraum gesehen; sämtliche Nachweise stammen von Kamerafallen oder indirekten Spuren. Seit 2013 fehlt auch dieser letzte Beleg – seither blieb jede Kamera und jede Umwelt-DNA-Probe ohne Ergebnis.
Frühere Versuche, Saolas in Gefangenschaft zu halten, scheiterten ebenfalls. Über 20 Tiere wurden seit den 1990er-Jahren lebend gefangen, aber alle starben binnen weniger Tage. Die Hoffnung ruht nun auf einem neu errichteten, professionell betreuten Zuchtzentrum in Vietnam. Sollten noch Saolas gefunden werden, könnten sie dort medizinisch versorgt, gezüchtet und später in geeignete, vor Wilderei geschützte Gebiete ausgewildert werden.
Doch genau dieser Schutz fehlt bislang: Laut IUCN ist kein einziger Lebensraum der Saola wirksam vor Wilderei gesichert. In vielen Gebieten werden jährlich tausende Drahtschlingen ausgelegt – nicht gezielt für Saolas, sondern für Wildschweine, Muntjaks oder Zibetkatzen. Die Saola gerät dabei als unbeabsichtigtes Opfer in die tödlichen Fallen – und könnte dadurch verschwinden, ohne dass es jemand bemerkt.
Neue Hoffnung durch moderne DNA-Suchmethoden
Die neuen genetischen Daten könnten die Suche nach überlebenden Saolas entscheidend voranbringen. Denn mit dem entschlüsselten Genom lassen sich moderne Nachweismethoden – etwa Umwelt-DNA (eDNA) in Fließgewässern oder Blutreste in Egeln – deutlich gezielter einsetzen. Vielleicht gelingt es so erstmals wieder, Beweise für die Existenz der Saola zu finden. Die Studienautoren betonen jedoch, dass erhebliche Zweifel bestehen, ob das Vietnamesische Waldrind überhaupt noch existiert.
Mit der Veröffentlichung des Referenzgenoms steht nun ein präzises Instrument zur Verfügung, um selbst stark degradierte DNA-Spuren eindeutig der Saola zuzuordnen. Das Genom umfasst rund 2,7 Milliarden Basenpaare, mehr als 21.000 protein-codierende Gene sowie über 7.500 nicht-kodierende RNAs. Fast die Hälfte des Erbguts besteht aus repetitiven Elementen – ein Muster, das dem des Hausrinds ähnelt.
Selbst wenn die Saola bereits ausgestorben sein sollte, wären die gewonnenen Erkenntnisse keineswegs bedeutungslos: Sie könnten die Grundlage für künftige De-Extinktionsversuche bilden – also für die mögliche Wiederbelebung ausgestorbener Arten. Auch wenn das derzeit noch Zukunftsmusik ist, schließen Fachleute diese Option langfristig nicht aus.
Die Saola – ein evolutionäres Unikat mit ungewisser Zukunft

(© IUCN Red List of Threatened Species, species assessors and the authors of the spatial data., CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons)
Das Saola ist nicht nur extrem selten – sie ist auch evolutionär einzigartig.Sie steht auf einem isolierten Seitenzweig des Stammbaums der Paarhufer, der sich vor etwa 12 bis 15 Millionen Jahren vom Rest abspaltete. Keine andere heute lebende Art teilt diesen Zweig. Ihr Aussterben würde daher nicht nur den Verlust einer Art bedeuten, sondern das Ende einer ganzen evolutionären Linie.
Lange war ihre Stellung innerhalb der Rindstiere (Bovini) unklar. Neue phylogenetische Analysen bestätigen nun eindeutig: Die Saola ist ein basales Mitglied dieser Gruppe – also eine sehr ursprüngliche Linie innerhalb der Familie.
Ihr Lebensraum liegt ausschließlich in den abgelegenen, dicht bewaldeten Gebirgsregionen der Annamiten an der Grenze zwischen Vietnam und Laos. Die Kombination aus steilem, schwer zugänglichem Terrain und dem äußerst scheuen Verhalten der Tiere macht es äußerst schwierig, sie zu beobachten – selbst in Regionen mit intensiver Überwachung. Ihre Fähigkeit, sich zu entziehen, ist so ausgeprägt, dass sie selbst für erfahrene Forschende kaum nachweisbar ist.
Laut IUCN ist das Verbreitungsgebiet der Saola auf einige wenige feuchte Bergwälder beschränkt – mit einer geschätzten Fläche von unter 10.000 Quadratkilometern. Falls sie noch existiert, lebt die Art vermutlich nur noch in wenigen, voneinander isolierten Waldgebieten – bevorzugt in mittleren Höhenlagen zwischen 500 und 800 Metern. Tiefer gelegene Wälder sind häufig bereits zerstört oder stark degradiert; Regionen oberhalb von 1.200 Metern werden von der Saola kaum genutzt.
Warum das „asiatische Einhorn“ vom Aussterben bedroht ist
Die Saola gilt als eines der am stärksten bedrohten Säugetiere der Welt – und das aus gutem Grund. Die Internationale Union zur Bewahrung der Natur (IUCN) beschreibt die Lage der Art als dramatisch.
Die größte Bedrohung ist die Wilderei. Saolas werden nicht gezielt gejagt, sondern verenden als zufällige Beifänge in zehntausenden Drahtschlingen, die in den Wäldern Vietnams und Laos für Wildschweine, Muntjaks oder Zibetkatzen ausgelegt werden.
Der zunehmende Ausbau von Straßeninfrastruktur verschärft die Situation zusätzlich: Großprojekte wie die Ho-Chi-Minh-Straße und ihre zahlreichen Zubringer erschließen bisher unzugängliche Waldgebiete – und erleichtern den Zugang für Jäger, Holzfäller und Siedler. Die Folge ist nicht nur ein massiver Lebensraumverlust, sondern auch eine starke Fragmentierung der letzten Rückzugsräume.
Kein einziger Lebensraum im bekannten Verbreitungsgebiet der Saola ist derzeit wirksam vor Wilderei geschützt. Selbst in offiziell ausgewiesenen Schutzgebieten sind illegale Aktivitäten weit verbreitet – effektiver Schutz besteht bisher meist nur auf dem Papier.
Hinzu kommen genetische und demografische Risiken: Die wenigen überlebenden Tiere sind stark verstreut, leben in kleinen Gruppen und begegnen sich vermutlich kaum noch. Inzucht, genetische Verarmung und eine geringe Fortpflanzungsrate verschärfen den Niedergang weiter.
Obwohl die Saola in der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) bislang kaum eine Rolle spielt, könnte ihre extreme Seltenheit sie künftig für illegale Sammler attraktiv machen – ein zusätzliches Risiko, das durch den wachsenden Wohlstand in der Region noch zunimmt.
Laut IUCN ist die Population der Saola in den letzten drei Generationen um über 80 Prozent zurückgegangen – und der Trend zeigt weiterhin nach unten.
Die neue Studie liefert erstmals umfassende Einblicke in Herkunft, genetische Struktur und Bedrohungslage der Saola – und gibt Grund zur Hoffnung. Ein gut geplantes Zuchtprogramm mit Individuen aus beiden genetischen Linien könnte die Grundlage für eine Wiederherstellung der Art bilden – vorausgesetzt, es gelingt überhaupt noch, lebende Tiere zu finden.
Doch die Zeit läuft davon. Wilderei, fehlender Schutz der verbliebenen Lebensräume und genetische Risiken bringen die Art an den Rand des Aussterbens. Das „asiatische Einhorn“ steht kurz davor, für immer zu verschwinden.
Der Fall der Saola verdeutlicht auch ein grundsätzliches Dilemma im Artenschutz: Manche Arten werden erst entdeckt, wenn ihr Verschwinden bereits begonnen hat. Umso wichtiger ist es, vorhandenes Wissen entschlossen zu nutzen – bevor es zu spät ist.
Quelle
- García-Erill, G., Heller, R., Nguyen, Q. D., Le, M. D., & The Saola Genome Consortium. (2025). A genomic roadmap for saving the Saola, Asia’s elusive “unicorn”. Cell, 188(9), 1842–1857. https://doi.org/10.1016/j.cell.2025.03.040
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