Vor 200 Jahren war die Erde noch im Gleichgewicht: Die Masse aller wilden Säugetiere entsprach in etwa der von Menschen und ihren Nutztieren zusammen. Heute ist davon kaum etwas übrig: Nur noch ein winziger Bruchteil der Säugetier-Biomasse besteht aus Wildtieren – der Rest ist vom Menschen geschaffen.
Eine neue Studie in Nature Communications zeigt, wie tiefgreifend sich die Natur seit Beginn der Industrialisierung verändert hat. Im Jahr 1850 machten wilde Säugetiere noch rund 50 % der globalen Biomasse aus, heute sind es nur noch 4 bis 5 %. Menschen und ihre Nutztiere stellen inzwischen 95 % aller Säugetiermasse auf der Erde. Mit anderen Worten: Der Mensch hat das Gewicht des Lebens in nur zwei Jahrhunderten nahezu vollständig in seine Richtung verschoben.
Die Erde im Ungleichgewicht
Das Forschungsteam um Lior Greenspoon vom Weizmann Institute of Science berechnete erstmals, wie sich die Säugetier-Biomasse – also das Gesamtgewicht aller Säugetiere – seit 1850 verändert hat. Dazu unterschieden sie zwischen wilden Landsäugetieren, wilden Meeressäugetieren und dem Menschen samt seinen Nutztieren.
Das Ergebnis ist eindeutig: Die Biomasse wilder Arten ist massiv geschrumpft, während die Masse von Menschen und ihren Nutztieren explodierte.
- Die Biomasse wilder Landsäugetiere fiel von rund 50 auf 20 Millionen Tonnen (Mt),
- Die Meeressäuger verloren etwa 70 %, von 130 auf 40 Mt.
- Gleichzeitig stieg die kombinierte Biomasse von Menschen und Nutztieren auf über 1,1 Milliarden Tonnen – fast das 60-Fache der verbliebenen Wildtiere.
Heute bestehen nur noch etwa 4 bis 5 % der globalen Säugetier-Biomasse aus Wildtieren. Rund 36 % entfallen auf den Menschen und 60 % auf seine Nutztiere. Die Erde hat ihr natürliches Gleichgewicht verloren – und das Ergebnis ist eine Welt, deren Gewicht fast ausschließlich vom Menschen bestimmt wird.
Ein Planet aus Menschen und Nutztieren
Vor nicht einmal zwei Jahrhunderten lebten rund 1,2 Milliarden Menschen auf der Erde – heute sind es mehr als acht Milliarden. Da Erwachsene im Durchschnitt schwerer geworden sind und ihr Anteil an der Bevölkerung zugenommen hat, wuchs auch die menschliche Biomasse gewaltig: von etwa 50 auf 420 Millionen Tonnen – ein Anstieg um das Achtfache.

(© Greenspoon et al. (2025), Nature Communications, CC BY-NC-ND 4.0)
Mit der Ausbreitung von Landwirtschaft und Viehzucht stieg auch die Masse der Nutztiere explosionsartig an. Rinder machen seit 1850 konstant rund zwei Drittel der gesamten Nutztier-Biomasse aus – ihre Masse hat sich vervierfacht. Auch Schweine, Schafe, Ziegen und Hausbüffel (Bubalus bubalis) nahmen deutlich zu, ihre Biomasse stieg um das Drei- bis Zehnfache. Nur die Pferde bilden eine Ausnahme: Ihre Zahl erreichte in den 1920er-Jahren ihren Höhepunkt und liegt heute wieder auf dem Niveau des 19. Jahrhunderts.
Selbst die vom Menschen abhängigen Haustiere und Kulturfolger wie Hunde, Katzen, Ratten und Hausmäuse haben stark zugenommen – ihre gemeinsame Biomasse wuchs von rund 5 auf 20 Millionen Tonnen.
Damit hat sich die Biomasse domestizierter Säugetiere in den vergangenen 170 Jahren verfünffacht – von rund 130 auf 650 Millionen Tonnen. Dieses Wachstum ist ein direktes Resultat der industriellen Ausweitung der Tierhaltung. Ein Großteil der heutigen Säugetier-Biomasse besteht aus Tieren, die allein existieren, um menschliche Bedürfnisse zu erfüllen – sie liefern Fleisch, Milch, Leder oder Gesellschaft.
Doch diese Entwicklung hat ihren Preis: Die Viehhaltung beansprucht enorme Mengen an Wasser, Land und Futter und verursacht rund 12 % der weltweiten Treibhausgasemissionen. Damit hat der Mensch nicht nur die Zahl der Tiere, sondern auch die Energieflüsse und Stoffkreisläufe der Biosphäre grundlegend verändert. Da Biomasse eng mit Energie- und Nahrungsverbrauch verknüpft ist, wird sie zum Spiegel des ökologischen Fußabdrucks der Menschheit.
Die Biomasse wilder Säugetiere
Wie stark die Biomasse wilder Säugetiere seit 1850 tatsächlich zurückgegangen ist, war bislang kaum bekannt – vor allem, weil historische Daten lückenhaft sind. Das Forschungsteam aus Israel und den USA kombinierte deshalb verschiedene Quellen: Fang- und Jagdstatistiken, Populationsmodelle sowie aktuelle Zählungen und Schätzungen.
Das Jahr 1850 wählten die Forschenden bewusst: Es markiert den Beginn der industriellen Revolution und gilt als Referenzzeitpunkt, bevor die weltweite Industrialisierung von Viehhaltung und Walfang einsetzte.
Biomasse der Meeressäuger
Zur Schätzung der Biomasse von Meeressäugern entwickelten die Forschenden ein populationsdynamisches Modell, das auf historischen Fangaufzeichnungen und bekannten Populationsgrößen basiert. Es bildet die Bestandentwicklung großer Walarten über die vergangenen 170 Jahre ab. Berücksichtigt wird dabei vor allem der direkte Einfluss durch Jagd – nicht jedoch weitere Belastungen wie Beifang, Schiffsverkehr, Klimawandel, Lärm oder veränderte Nahrungsnetze.

(© Greenspoon et al. (2025), Nature Communications, CC BY-NC-ND 4.0)
Das Ergebnis ist eindeutig: Seit 1850 ist die globale Biomasse wilder Meeressäuger um rund 70 % geschrumpft. Schon vor 1850 waren Populationen einiger Robbenarten und des Nordatlantischen Glattwals (Eubalaena glacialis) stark dezimiert. Mit der Einführung neuer Jagdtechniken nahm der Druck im späten 19. Jahrhundert enorm zu.
Großwale wie Blauwal (Balaenoptera musculus), Finnwal (B. physalus), Buckelwal (Megaptera novaeangliae) oder Pottwal (Physeter macrocephalus) stellten um 1850 noch etwa 80 % der gesamten Meeressäuger-Biomasse. Zwischen den 1860er- und 1980er-Jahren brachen ihre Bestände durch die intensive Bejagung jedoch massiv ein.
Erst 1986 stoppte der Abwärtstrend, als die Internationale Walfangkommission (IWC) ein weltweites Moratorium für den kommerziellen Walfang verhängte. Seither erholen sich einige Populationen langsam – andere bleiben jedoch stark reduziert.
Biomasse der wildlebenden Landsäugetiere
Noch schwieriger war die Schätzung für die rund 6.400 Landsäugetierarten. Hier fehlen globale historische Datensätze fast vollständig. Selbst für bekannte Arten wie den Afrikanischen Elefanten (Loxodonta africana) gibt es keine durchgehenden Bestandsaufzeichnungen über 170 Jahre. Für viele kleinere Arten gibt es gar keine Zahlen – sie wurden schlicht nie systematisch erfasst.

(© USAID U.S. Agency for International Development, Public domain, via Wikimedia Commons)
Das Team nutzte daher veröffentlichte historische Populationsschätzungen, die vor allem für große, ökologisch bedeutende oder jagdlich relevante Arten vorliegen – insbesondere für Paarhufer (Artiodactyla) und Elefanten (Proboscidea), die zusammen etwa 60 % der Land-Säugetier-Biomasse ausmachen.
Für viele kleinere Arten mussten Greenspoon et al. annehmen, dass ihre Biomasse seit 1850 weitgehend konstant geblieben ist – eine Annahme, die den tatsächlichen Rückgang wahrscheinlich unterschätzt. Trotz dieser Unsicherheiten ergibt sich ein klares Bild: Die Biomasse wilder Landsäugetiere hat sich seit 1850 mehr als halbiert – von etwa 50 auf 20 Millionen Tonnen.
Zugleich betonen die Forschenden, dass bereits vor 1850 viele Populationen stark dezimiert waren. Menschliche Einflüsse wie Jagd, Lebensraumverlust und Konkurrenz durch Nutztiere wirkten schon seit Jahrtausenden. Das Jahr 1850 markiert also keinen „ursprünglichen“ Zustand, sondern bereits eine ökologisch veränderte Welt.
Viele Unsicherheiten – ein eindeutiger Trend
Alle Schätzungen sind mit Unsicherheiten behaftet: Je weiter man in die Vergangenheit blickt, desto spärlicher werden die Daten und desto größer die Spielräume. Doch der Trend ist unübersehbar: In nur zwei Jahrhunderten hat der Mensch das Gewicht des Lebens auf der Erde radikal verschoben.
Die Studie liefert damit die bislang umfassendste Rekonstruktion der globalen Säugetier-Biomasse von 1850 bis heute – und macht sichtbar, wie ungleich das Leben inzwischen verteilt ist.
Biomasse – ein neues Maß für den Zustand der Tierwelt
Die Studie zeigt: Das Artensterben erzählt nur die halbe Geschichte. Während die Rote Liste der IUCN seit 1850 nur drei ausgestorbene Meeressäugerarten nennt – die Karibische Mönchsrobbe, den Japanische Seelöwe und Stellers Seekuh –, ist die gesamte Biomasse der Meeressäuger im gleichen Zeitraum um rund 70 % geschrumpft.

(© NOAA Photo Library, Public domain, via Wikimedia Commons)
Artenlisten zeigen, welche Tiere verschwinden – die Biomasse zeigt, wie viel Leben noch übrig ist. Sie offenbart, dass die Natur nicht nur an Arten, sondern an Substanz verliert. Viele Tierarten existieren zwar noch, doch ihre Bestände sind so stark geschrumpft, dass sie ihre ökologische Rolle kaum mehr erfüllen können – ein Phänomen, das Forschende als funktionales Artensterben bezeichnen.
Dieser Verlust hat weitreichende Folgen: Weniger Elefanten formen die Savannen, weniger Wale düngen die Ozeane mit Nährstoffen, und weniger Bisons halten die nordamerikanischen Prärien offen. Wenn Biomasse schwindet, verlieren Ökosysteme nicht nur Individuen, sondern auch Energie, Dynamik und Stabilität. Böden verarmen, Wälder regenerieren sich langsamer, und Nahrungsketten brechen zusammen.
Das Wachstum menschlicher und tierischer Nutzbiomasse bedeutet dabei keine direkte Verdrängung der Wildtiere – doch die Flächen, die für Weiden, Futterproduktion und Siedlungen benötigt werden, entziehen der Wildnis ihren Raum. So wird sichtbar, dass der Verlust der Biodiversität nicht erst mit dem Aussterben beginnt, sondern bereits dann, wenn die Tiere ihr ökologisches Gewicht verlieren.
Hoffnung und Handlung

(© Andy Witchger, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons)
Trotz der düsteren Bilanz macht die Studie auch Hoffnung: Sie zeigt, dass sich Tierpopulationen erholen können, wenn der Mensch ihnen eine echte Chance gibt. In antarktischen Gewässern nehmen die Bestände mancher Walarten langsam wieder zu, in Europa kehren Wisente (Bos bonasus) in Wälder und Nationalparks zurück, und an der Pazifikküste erholen sich Nördliche Seeotter (Enhydra lutris kenyoni), deren Verschwinden einst ganze Ökosysteme brachte.
Diese Beispiele beweisen, dass auch die Biomasse wieder wachsen kann, wenn Schutz und Wiederherstellung konsequent umgesetzt werden. Der Weg dorthin führt über:
- Schutzgebiete, die groß genug sind, um stabile Populationen zu ermöglichen,
- Renaturierung und Rewilding, die große Pflanzenfresser und Raubtiere zurückbringen,
- eine nachhaltige Landwirtschaft, die weniger Fläche beansprucht und Lebensräume offenlässt,
- sowie globale Monitoring-Programme, die nicht nur Arten zählen, sondern auch ihre Biomasse erfassen.
Solche Maßnahmen können helfen, das Gewicht des Lebens wieder ins Gleichgewicht zu bringen – und die Erde von einer Verlustbilanz in eine Bilanz der Wiederherstellung zu verwandeln.
Das neue Gleichgewicht
Die Forschenden schlagen vor, Biomasse künftig als zusätzlichen Indikator im Naturschutz zu nutzen. Sie zeigt nicht nur, welche Arten verschwinden, sondern auch, wie viel Leben bereits verloren gegangen ist. Ein stabil wirkendes Artinventar kann trügen: Wenn Millionen Tiere fehlen, bleibt von der einstigen Vielfalt nur ein Schatten.
Für ein umfassendes Bild der Tierwelt braucht es kontinuierliche, globale Erfassungen der Wildtierbestände – insbesondere bei kleinen und bislang kaum erforschten Arten. Mit ihrer Studie legen Greenspoon et al. einen wichtigen Grundstein für eine quantitative Bestandsaufnahme des Lebens auf der Erde – und zeigen, wie eng Biodiversität, Klimaschutz und Ressourcennutzung miteinander verflochten sind.
Der Mensch hat das Gewicht des Lebens verschoben – von wilder Vielfalt zu domestizierter Masse. Nur ein winziger Rest der Säugetier-Biomasse ist heute noch wirklich wild. Doch das Gleichgewicht lässt sich wieder verändern: durch Schutz, Wiederherstellung und eine Landwirtschaft, die der Wildnis Raum gibt.
Quelle
- Greenspoon, L., Ramot, N., Moran, U. et al. (2025): The global biomass of mammals since 1850. Nature Communications 16, 8338. https://doi.org/10.1038/s41467-025-63888-z
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