Rekord: Ein Schwarm von 12,5 Billionen Heuschrecken
Der korrekte biologische Begriff für sich zu großen Gruppen zusammenschließende Tiere ist der „Schwarm“, doch wenn es um große Ansammlungen von Wanderheuschrecken geht, spricht man von einer „Plage“, da sie nicht nur wandern, sondern dabei ganze Landstriche verwüsten. Wanderheuschrecken unterscheiden sich von gewöhnlichen Heuschrecken durch ihr destruktives Verhalten: Ihre Populationen wachsen rasant an, und sie fressen die gesamte Vegetation einer Region auf, bevor sie in großen Massen zur nächsten Nahrungsquelle weiterziehen. Die bekannteste Wanderheuschrecke, die Nordamerika heimsuchte, war die Rocky-Mountain-Heuschrecke, auch Felsengebirgsschrecke genannt.
Die große Plage von 1874
Eine der verheerendsten Heuschreckenplagen ereignete sich im Sommer 1874, als riesige Schwärme der Rocky-Mountain-Heuschrecke die Great Plains in den USA und Kanada überzogen. Diese Plage erstreckte sich über 5,2 Millionen Quadratkilometer und zerstörte Ernten in mehreren Staaten, darunter Iowa, Minnesota, Nebraska, Kansas und Texas. Die Anzahl der Heuschrecken wurde auf bis zu 12,5 Billionen geschätzt, und der wirtschaftliche Schaden belief sich auf Millionen von Dollar. In manchen Gegenden waren die Schwärme so dicht, dass sie für Stunden die Sonne verdunkelten. Die amerikanische Schriftstellerin Laura Ingalls Wilder beschrieb das Ereignis in ihrem autobiografischen Kinderbuch On the Banks of Plum Creek (1937):
„Die Wolke bestand aus Heuschrecken. Ihre Körper verdeckten die Sonne und erzeugten Dunkelheit. Ihre dünnen, großen Flügel glänzten und glitzerten. Das schleifende Summen ihrer Flügel erfüllte die gesamte Luft, und sie schlugen auf den Boden und das Haus ein wie ein Hagelsturm.“
On the Banks of Plum Creek. 1937. L. Ingalls Wilder
Die Heuschrecken fraßen alles, was ihnen begegnete: Früchte, Bäume, Kleidung, Holzbalken, Leder, sogar Wolle von Schafen – und gelegentlich sich gegenseitig. Ihre Überreste verschmutzten das Wasser, und Züge blieben auf den durch Heuschrecken glitschigen Gleisen stecken. Versuche der Bauern, die Heuschrecken mit Feuer und Sprengstoff zu bekämpfen, scheiterten. Andere Methoden, wie das Abdecken der Felder mit Planen oder das Ertränken der Insekten in wasser- und ölgefüllten Gräben, waren ebenfalls weitgehend erfolglos. Ein Gerät namens „Hopperdozer“ sollte Heuschrecken mit Teer einfangen, doch dieses funktionierte nur auf ebenen Feldern.
Fressen oder gefressen werden: Heuschrecken als Nahrung?
Charles Valentine Riley, ein Entomologe aus Missouri, schlug 1875 in The Rocky Mountain Locust sogar vor, die Heuschrecken als Nahrungsquelle zu nutzen, um sowohl die Zahl der Insekten zu reduzieren als auch hungrige Siedler zu ernähren. Er erklärte, dass Menschen und Tiere seit der Antike Heuschrecken gegessen hätten. Laut Riley sollen die in Butter gebratenen Heuschrecken einen nussigen Geschmack haben; auch eine schmackhafte Suppe könnten sie ergeben. Einige Siedler probierten Rileys Rezepte und empfanden die Heuschrecken ähnlich wie Flusskrebse. Doch viele Farmer, die durch die Plage schwere Verluste erlitten hatten, weigerten sich, die Insekten zu essen.
Ein archäologischer Fund von 2022 in der Crypt Cave am Winnemucca-See in Nevada deutet darauf hin, dass Heuschrecken als Nahrungsquelle für frühe nordamerikanische Kulturen dienten. In einer Grube wurden rund 1.000 Überreste der Felsengebirgsschrecke gefunden, die etwa 14.100 Jahre alt sind. Diese 60 bis 80 Zentimeter tiefe Grube diente wahrscheinlich zur Lagerung großer Mengen von Heuschrecken, die von den damaligen Bewohnern gesammelt und gegessen wurden.
Die Heuschreckenplage traf die Region mitten in einer Rekorddürre und verschlimmerte die ohnehin prekäre Situation erheblich. In den am stärksten betroffenen Gebieten wuchs der Nahrungsmittelbedarf derart an, dass US-Präsident Ulysses S. Grant im November 1874 die Verteilung von Armeebeständen anordnete. Trotz anfänglichem Zögern leisteten sowohl die Bundesregierung als auch private Hilfsorganisationen Unterstützung in Form von Lebensmitteln, Kleidung und Saatgut. Im Jahr 1875 wurden zudem die Wohnsitzanforderungen für betroffene Bauern gelockert, sodass sie ihre Höfe vorübergehend verlassen konnten, um Hilfe zu suchen.
Alberts Schwarm im Jahr 1875
Die Fortsetzung der Plage von 1874 beziehungsweise ein Teil der großen Heuschreckenplage in den 1870er-Jahren in Nordamerika wird auch als „Alberts Schwarm“ bezeichnet. Damit sind die Wanderheuschrecken gemeint, die 1875 durch den Westen der USA zogen, insbesondere durch Missouri und Nebraska. Benannt wurde das Ereignis nach dem Arzt Albert Child, der die Größe des Schwarms auf 510.000 Quadratkilometer berechnete, indem er die geschätzte Geschwindigkeit des Schwarms mit der Zeit multiplizierte, die dieser brauchte, um durch den Süden Nebraskas zu ziehen.
Die Rocky-Mountain-Heuschrecken-Plage zog sich über mehrere Jahre hin. Ein früher Frost und die Zerstörung von Heuschrecken-Eiern durch Pflügen der Felder im Jahr 1875 führten schließlich zu einem Rückgang der Population. Während der Entomologe Jeffrey A. Lockwood in seinem Buch Locust: The Devastating Rise and Mysterious Disappearance of the Insect that Shaped the American Frontier (2004) die Anzahl der Heuschrecken im Schwarm auf 3,5 Billionen schätzt, gehen andere Quellen von bis zu 12,5 Billionen aus – laut Guinness-Buch der Rekorde die größte jemals vermutete Ansammlung von Tieren.
Rocky-Mountain-Heuschrecke – Steckbrief
alternative Bezeichnung | Felsengebirgsschrecke |
wissenschaftliche Namen | Melanoplus spretus, Calopentus spretus, Acridium spretis, Pezotettix spretus |
englische Namen | Rocky Mountain locust, Rocky Mountain grasshopper |
ursprüngliches Verbreitungsgebiet | Nordamerika (Kanada und USA) |
Zeitpunkt des Aussterbens | 1902 |
Ursachen für das Aussterben | Zerstörung von Brutgebieten, Lebensraumverlust, Verfolgung durch den Menschen |
IUCN-Status | ausgestorben |
Heuschreckenplagen seit dem 18. Jahrhundert dokumentiert
Die Felsengebirgsschrecke richtete in Nordamerika schon lange vor der berüchtigten Plage von 1874 Schäden an. Laut einem Artikel von Chuck Lyons gibt es Berichte über Heuschreckenplagen bereits seit dem 18. Jahrhundert. Zwischen 1743 und 1756 zerstörten Rocky-Mountain-Heuschrecken Ernten auf Farmen in Maine, und von 1797 bis 1798 waren Farmen in Vermont betroffen.
Im 19. Jahrhundert wurden diese Plagen immer bedrohlicher, da sich die Landwirtschaft weiter nach Westen in die bevorzugten Lebensräume der Heuschrecken ausdehnte. Zwischen 1828 und 1855 gab es mehrmals Plagen, die große Teile des Westens der USA betrafen. Besonders betroffen waren Minnesota, das zwischen 1856 und 1865 mehrere Ausbrüche erlebte, sowie Nebraska, das von 1856 bis 1874 siebenmal von den Rocky-Mountain-Heuschrecken heimgesucht wurde. Diese Plagen richteten regional erhebliche Schäden an, blieben jedoch relativ begrenzt.
Die verheerendste Plage fand zwischen 1873 und 1877 statt. Die Heuschrecken schlüpften in den heißen Sommermonaten entlang der östlichen Hänge der Rocky Mountains und breiteten sich auf ihrer Nahrungssuche in riesigen Schwärmen in die fruchtbaren Gebiete der Great Plains aus. Die Plage breitete sich über ein riesiges Gebiet aus, sodass nicht nur ein Bundesstaat betroffen war, sondern gleich mehrere. Besonders getroffen hat es die Staaten Kansas, Nebraska, Dakota Territory, Iowa, Missouri und Minnesota.
Die Farmer waren schlecht auf solche Plagen vorbereitet. Viele litten bereits unter den wirtschaftlichen Folgen der Wirtschaftskrise von 1873 und der Dürre im Sommer 1874. Die Heuschreckenplage vernichtete ihre Ernten und zwang viele Farmer, ihre Höfe aufzugeben und nach Osten zurückzukehren. Kansas verlor bis zu ein Drittel der Bevölkerung durch die Katastrophe.
Um die Plagen zu bekämpfen, erließ Nebraska 1877 ein Gesetz, das alle Bürger zwischen 16 und 60 Jahren verpflichtete, mindestens zwei Tage lang aktiv gegen die Heuschrecken vorzugehen, insbesondere während der Schlupfzeit. Wer sich verweigerte, musste eine Geldstrafe von zehn Dollar zahlen. Missouri führte gleichzeitig ein Prämienprogramm ein, das einen Dollar pro Scheffel gesammelter Heuschrecken im März zahlte, wobei die Prämie in den Folgemonaten schrittweise sank. Andere Staaten der Great Plains folgten mit ähnlichen Maßnahmen, um die Bevölkerung zur Bekämpfung der verheerenden Plagen zu motivieren.
In den 1880er-Jahren hatten sich die Farmer von den Heuschreckenplagen erholt. Eine der erfolgreichsten Anpassungen war der Umstieg auf robustere Feldfrüchte wie Winterweizen, der früher reifte und somit weniger anfällig für Heuschrecken war. Diese Anpassungen halfen den Farmern, sich langfristig gegen zukünftige Plagen zu wappnen und die Ertragsverluste zu minimieren, auf die Rocky-Mountain-Heuschrecke hatte dies aber wahrscheinlich verheerende Auswirkungen.
Rocky-Mountain-Heuschrecke: Taxonomie und Merkmale
Der britisch-amerikanische Entomologe Benjamin Dann Walsh führte 1866 in seiner Arbeit Grasshoppers and Locusts erstmals den wissenschaftlichen Namen der Rocky-Mountain-Heuschrecke als Caloptenus spretus ein. Ursprünglich war sie von Philipp Reese Uhler benannt worden, jedoch ohne eine formale Beschreibung. Walsh erläuterte, dass „der Name ’spretus‘ so viel wie ‚verachtet‘ bedeutet und sich offenbar darauf bezieht, dass diese Art bisher von Entomologen verachtet oder übersehen wurde“. Eine detaillierte Beschreibung der Art lieferte er nicht und er geht auch nur am Rande auf die Biologie, Ökologie und Bekämpfung der Felsengebirgsschrecke ein.
Samuel Hubbard Scudder, ein amerikanischer Insektenforscher und Paläontologe, stellte 1878 in einem Aufsatz klar, dass die Rocky-Mountain-Heuschrecke zur Gattung Melanoplus gehört und nicht, wie Walsh annahm, zu Calliptenus (von Walsh fälschlicherweise als Caloptenus bezeichnet, heute als Calliptamus bekannt). Melanoplus ist vor allem in Nordamerika verbreitet, während Calliptamus in Europa, Nordafrika und Asien vorkommt. Das Verhalten der Felsengebirgsschrecke, insbesondere ihre weiten Wanderungen durch trockene, offene Gebiete wie Prärien und Wüsten, passte ebenfalls besser zu den Arten der Gattung Melanoplus.
Die Rocky-Mountain-Heuschrecke, die eine Körperlänge von zwei bis 3,5 Zentimetern erreichte, war an die harten Bedingungen in den nordamerikanischen Prärien und Bergregionen bestens angepasst. Mit ihren kräftigen Hinterbeinen konnte sie weite Sprünge machen, während ihr gedrungener Körper mit kurzen, aber funktionellen Flügeln für das Schwarmverhalten optimiert war. Typisch für die Gattung Melanoplus waren zudem ihre gut entwickelten Kauwerkzeuge, die es der Felsengebirgsschrecke ermöglichten, in kurzer Zeit große Mengen an Pflanzenmaterial zu fressen.
Ein Zitat von Branden Holmes in What’s Lost and What Remains fasst die damalige Haltung gegenüber der Art zusammen:
„Wie bei anderen ausgestorbenen Arten, die nur von wenigen Exemplaren bekannt sind, lieferte die Billionen starke weltweite Population nur wenige verlässliche Daten, da sie als Schädling betrachtet wurde. Es gab schlichtweg kein Interesse daran, die Art zu verstehen – das einzige Ziel war ihre Ausrottung.“
What’s Lost and What Remains: The Sixth Extinction in 100 Accounts. 2021. S. 184. B. Holmes.
Entdeckung von Überresten der Rocky-Mountain-Heuschrecke
Jeffrey Lockwood, ein Entomologe aus Wyoming, und seine Studenten machten sich auf die Suche nach Überresten der Rocky-Mountain-Heuschrecke, die in den sogenannten „Grasshopper Glaciers“ entlang der Rocky Mountains eingefroren waren. Seine Erkenntnisse hat er 2003 in einem Artikel für die High Country News zusammengefasst. Nach mehreren fehlgeschlagenen Versuchen fanden sie schließlich auf dem Knife Point Glacier in den Wind River Mountains, Wyoming, intakte Überreste der Heuschrecken. Diese wurden mittels Radiokarbonmethode auf das frühe 17. Jahrhundert datiert, nachdem ein Schwarm von Heuschrecken vermutlich durch Kälte immobilisiert und im Gletscher eingeschlossen worden war.
Lockwood und sein Team entdeckten etwa 130 gut erhaltene Exemplare, die durch das Abschmelzen des Gletschers wieder an die Oberfläche gelangten. Diese Funde halfen dabei, das Aussterben der Rocky-Mountain-Heuschrecke besser zu verstehen. Die Exemplare wurden sorgfältig gesammelt, katalogisiert und für weitere Untersuchungen konserviert, um neue Einblicke in das Leben und den plötzlichen Niedergang dieser einst so zahlreich vorkommenden Art zu gewinnen.
Was sind Wanderheuschrecken?
Wanderheuschrecken, aus der Familie der Acrididae, zeigen ein destruktives und migratorisches Verhalten, das für „Plagen“ typisch ist. Doch nicht alle Heuschrecken sind immer wandernd: Dieses Verhalten ist eine spezielle Verhaltensform bestimmter Arten, die von ihren Umweltbedingungen abhängt. Normalerweise leben sie als Einzeltiere in der solitären Phase. Wenn jedoch die Population stark ansteigt oder Nahrung knapp wird, wechseln sie in die gesellige oder schwarmbildende Phase (gregarische Phase). Ausgelöst wird dieser Übergang durch das Hormon Serotonin.
In der gregarischen Phase schließen sich die Heuschrecken zu riesigen Schwärmen zusammen, verändern ihre Physiologie und legen weite Strecken zurück, um neue Nahrungsquellen zu finden. Arten wie die Rocky-Mountain-Heuschrecke und die Wüstenheuschrecke (Schistocerca gregaria) besitzen diese Fähigkeit, während andere Heuschreckenarten dieses Verhalten nicht zeigen.
Während dieser Phase verändern Wanderheuschrecken nicht nur ihr Verhalten, sondern auch ihr Erscheinungsbild: Ihre Farben werden intensiver, sie können robuster und größer werden, um sich besser in den Schwärmen zu behaupten. Oft entwickeln sie auch längere Flügel, die ihnen das Fliegen über weite Distanzen in großen Gruppen ermöglichen, was ihre Effektivität als Schwarm noch verstärkt.
Verbreitungsgebiet der Felsengebirgsschrecke
Die Felsengebirgsschrecke war in weiten Teilen Nordamerikas heimisch, insbesondere in den Regionen entlang der Rocky Mountains und den Präriegebieten. Ihr bevorzugter Lebensraum waren die trockenen, sandigen Gebiete in den Rocky Mountains, wo sie sich auch fortpflanzte. In Schwarmjahren kam es jedoch zu massiven Wanderungen, bei denen die Heuschrecken weite Teile der Great Plains und des Mittleren Westens überzogen. Diese Schwärme erstreckten sich von Kanada bis Mexiko und von Utah bis nach Iowa.
Normalerweise blieb die Rocky-Mountain-Heuschrecke in ihren Brutgebieten, den Flussauen und Tälern der Rocky Mountains. Doch bei starkem Populationsanstieg, oft ausgelöst durch Dürreperioden, zogen die Schwärme in fruchtbarere Regionen wie die Prärien, um Nahrung zu finden. Durch ihre hohe Mobilität und die Fähigkeit zur Massenwanderung erweiterte sich ihr Verbreitungsgebiet deutlich, was zu den verheerenden Heuschreckenplagen des 19. Jahrhunderts führte.
In Revision of the Orthopteran Group Melanopli Acridiidae (1898) schreibt Scudder, dass die Felsengebirgsschrecke nur in bestimmten Jahren, insbesondere in trockenen Jahreszeiten, in großen Mengen von den Rocky Mountains in die Prärie hinabstieg und dabei westlichen Windströmungen folgte. Die Plagen dauerten gewöhnlich zwei aufeinanderfolgende Jahre lang.
Gründe für das Aussterben der Rocky-Mountain-Heuschrecke bis heute ungeklärt
Die Rocky-Mountain-Heuschrecke, einst eine der häufigsten Heuschreckenarten in Nordamerika, verschwand innerhalb von nur 20 Jahren auf unerklärliche Weise. Laut der Internationalen Union zur Bewahrung der Natur (IUCN) wurde das letzte bekannte Exemplar 1902 in Aweme, nahe Brandon, Manitoba, gesammelt. Zwischen 1850 und 1880 erreichte diese Art in den Präriegebieten riesige Populationsgrößen, bevor ihre Zahl abrupt zusammenbrach und sie sich nie wieder erholte.
Jeffrey Lockwood und Larry D. Debrey bezeichnen das Verschwinden der Rocky-Mountain-Heuschrecke als möglicherweise das einzige dokumentierte Aussterben einer Schädlingsart in der Geschichte der Landwirtschaft. In ihrer 1990 veröffentlichten Studie A Solution for the Sudden and Unexplained Extinction of the Rocky Mountain Grasshopper untersuchten sie verschiedene Theorien zum plötzlichen Aussterben der Felsengebirgsschrecke. Dabei widerlegten sie die meisten bisherigen Spekulationen und kamen zu dem Schluss, dass großflächige Veränderungen im Westen der USA, wie klimatische Schwankungen oder der Rückgang der Ureinwohner und Bisons, nicht die Hauptursache gewesen sein können. Da die Population der Heuschrecke in den frühen 1880er-Jahren bereits stark zurückgegangen war, könnten schon kleine Umweltveränderungen zu ihrem endgültigen Aussterben geführt haben.
Der Rückgang von Ureinwohnern, Bisons und Bibern
Es wird vermutet, dass die Rocky-Mountain-Heuschrecke während Trockenperioden stark von den Pflanzen der Tallgrass-Prärie abhängig war. Diese Prärie, mit ihren tiefen Wurzelsystemen, bot stabilen Boden und wichtige Nahrungsquellen, die für das Überleben der Insekten in Dürrezeiten entscheidend waren. Natürliche und von Ureinwohnern gelegte Feuer spielten eine wesentliche Rolle im Prärie-Ökosystem, indem sie das Eindringen von Bäumen verhinderten, Nährstoffe im Boden recycelten und die Keimung von Samen förderten. Für die Felsengebirgsschrecken bedeuteten diese regelmäßigen Störungen eine offene Landschaft mit den benötigten Ressourcen für ihre Fortpflanzung und ihr Überleben.
Der Rückgang der Bisonbestände könnte das Überleben der Felsengebirgsschrecke zusätzlich beeinträchtigt haben. Bisons spielten eine zentrale Rolle in den Prärien, indem sie das Grasland durch ihre Beweidung offen hielten und somit die Ansiedlung von Bäumen und Sträuchern verhinderten. Dadurch schufen sie ein ideales Brut- und Nahrungsgebiet für die Heuschrecken. Gleichzeitig trugen sie zur Erhaltung der Nährstoffzyklen des Bodens bei und halfen bei der Verbreitung von Pflanzensamen. Mit dem Verschwinden der Bisons wurde das Grasland dichter und weniger geeignet für die Heuschrecken, was ihre Fortpflanzung erschwerte.
Auch das Verschwinden der Biber trug möglicherweise zum Aussterben der Rocky-Mountain-Heuschrecke bei. Biber schufen durch den Bau von Dämmen Feuchtgebiete und Flussauen, die als wichtige Lebensräume für viele Arten dienten, einschließlich der Heuschrecken. Diese Feuchtgebiete boten stabile Bedingungen für die Eiablage und die Entwicklung der Heuschreckenlarven. Der starke Rückgang der Biberbestände im 19. Jahrhundert, bedingt durch intensiven Pelzhandel, führte zum Verlust dieser Feuchtgebiete. Damit verschwanden auch die für die Heuschrecken entscheidenden Lebensräume, was ihren Niedergang weiter beschleunigte.
Zerstörte Eiablageorte verhinderten Fortpflanzung
Das Aussterben der Felsengebirgsschrecke führen Lockwood und Debrey weitgehend auf die Zerstörung ihrer Eiablage- und Entwicklungsstandorte zurück. Besonders betroffen waren die Flussauen, die bevorzugten Lebensräume der Art, die durch die Expansion menschlicher Siedlungen und landwirtschaftliche Nutzung verloren gingen. Diese Eingriffe trafen die Heuschreckenpopulation zu einem Zeitpunkt, als sie ohnehin auf natürliche Weise zurückging. Besonders das Pflügen und Bewässern von Ackerland, vor allem entlang des Mississippi, könnte den Lebenszyklus der Heuschrecken erheblich gestört haben. Die Weibchen nutzten die Felder zur Eiablage, doch das Pflügen zerstörte die Gelege und verhinderte somit die Fortpflanzung.
Zusätzlich verschärften die Einführung von Vieh und neuen Pflanzenarten sowie die Ausbreitung von Vögeln die Zerstörung ihres Lebensraums in den späten 1880er-Jahren. In Locust: The Devastating Rise and Mysterious Disappearance of the Insect that Shaped the American Frontier schreibt Jeffrey Lockwood 2004, dass Farmer Berichten zufolge beim Pflügen, Eggen oder Überfluten ihrer Felder bis zu 150 Eigelege der Rocky-Mountain-Heuschrecke pro 6,45 Quadratzentimeter zerstörten.
Verlassen eigentlicher Brutgebiete
Der amerikanische Entomologe Cyrus Thomas stellte 1878 in On the Orthoptera collected by Dr. Elliott Coues, U.S.A., in Dakota and Montana, during 1973-74 fest, dass die Felsengebirgsschrecken nur während der Schwarmjahre in den Prärien vorkamen und sich dort vermehrten. Dabei entfernten sich die Schwärme immer weiter von ihrem ursprünglichen Lebensraum in den Rocky Mountains, und die Population nahm mit jeder Generation ab. Dies könnte darauf hindeuten, dass die Rocky-Mountain-Heuschrecken außerhalb ihrer natürlichen Brutgebiete in den Prärien nicht so gut gedeihen konnten, wodurch ihre Fortpflanzung zunehmend erschwert wurde.
Laut Jeffrey Lockwood (2004) lagen die eigentlichen Brutgebiete der Felsengebirgsschrecke in den Rocky Mountains, hauptsächlich in sandigen Böden in der Nähe von Flüssen und Bächen. Diese Kernhabitate boten den Heuschrecken unter normalen Bedingungen die idealen Voraussetzungen für die Fortpflanzung. Mit der Ausbreitung der landwirtschaftlichen Nutzung durch Siedler überschnitten sich diese Brutgebiete jedoch mit bewirtschafteten Flächen, was zur Zerstörung der Heuschreckengelege führte und vermutlich maßgeblich zum Rückgang der Art beitrug.
Auch Samuel Hubbard Scudder vermutete 1898, dass, obwohl während der Plagen eine große Menge an Eiern in der Prärie abgelegt wurde, die daraus geschlüpften Heuschrecken in der Regel nicht überlebensfähig waren. Er führte dies auf die mangelnde Anpassung der Art an die Präriehabitate zurück, was die Überlebenschancen außerhalb ihrer angestammten Brutgebiete stark beeinträchtigte.
Mangel an genetischer Vielfalt?
Eine weitere Hypothese zum Aussterben der Rocky-Mountain-Heuschrecke bezieht sich auf die genetische Vielfalt. Die Entomologen William Chapco und Greg Litzenberger führten 2004 eine molekulare phylogenetische Studie durch, bei der sie mitochondriale DNA von fünf Felsengebirgsschrecken-Exemplaren aus Museen sowie von Fragmenten analysierten, die in den 400 Jahre alten Gletscherablagerungen in Wyoming entdeckt wurden. Ihre Ergebnisse zeigten, dass die genetische Diversität der untersuchten Exemplare innerhalb der bekannten Werte für andere Arten der Gattung Melanoplus lag. Dies widerlegt die Theorie, dass ein genetischer Flaschenhals, also eine stark reduzierte genetische Vielfalt, zum Aussterben der Art beigetragen haben könnte.
Obwohl die Felsengebirgsschrecke eine beachtliche genetische Vielfalt aufwies, war sie dennoch nicht in der Lage, sich den durch die Besiedlung und die landwirtschaftliche Nutzung verursachten Umweltveränderungen anzupassen. Die Hauptursache für das Aussterben bleibt daher unklar, wobei die Zerstörung ihres Bruthabitats durch menschliche Eingriffe als wahrscheinlichster Faktor gilt. Die IUCN, die die Rocky-Mountain-Heuschrecke 2014 offiziell für ausgestorben erklärte, unterstützt die Theorie von Lockwood und Debrey, wonach die Vernichtung der Brutgebiete eine zentrale Rolle beim Verschwinden der Art spielte.
Kann die Felsengebirgsschrecke überlebt haben?
Nachdem Jeffrey Lockwood in den 1990er-Jahren gefrorene Überreste der Rocky-Mountain-Heuschrecke in Gletschern entdeckt hatte, unternahm er mehrere Expeditionen in abgelegene Flusstäler nahe dem Yellowstone-Nationalpark, um lebende Exemplare zu finden. Diese landwirtschaftlich ungenutzten Gebiete galten als letzte potenzielle Rückzugsorte. Trotz intensiver Suche blieb die Expedition erfolglos, und es konnten keine lebenden Heuschrecken gefunden werden.
Daniel Otte, ein aus Südafrika stammender amerikanischer Experte für Heuschrecken und Grillen, vermutet 2002, dass die Rocky-Mountain-Heuschrecke möglicherweise nicht ausgestorben ist, sondern nur inaktiv darauf wartet, dass geeignete Bedingungen zur Wiederbelebung entstehen. Es gibt Fälle von Insekten, die in Nicht-Ausbruchszeiten über lange Zeiträume in Rückzugsgebieten überdauern. Zikaden sind zum Beispiel dafür bekannt, dass sie viele Jahre unter der Erde verbringen; erst bei hohen Temperaturen und dichter Vegetation tauchen die erwachsenen Tiere wieder auf. Das führt dazu, dass sie mehrere Generationen lang nicht nachgewiesen und manchmal für ausgestorben gehalten werden, wie etwa die Zikadenart Okanagana arctostaphylae, die 2024 nach 100 Jahren wiederentdeckt wurde.
Da Heuschrecken in der Verhaltensform als Wanderheuschrecke anders aussehen als in ihrer normalen solitären Phase, könnte man auf die Idee kommen, dass die Rocky-Mountains-Heuschrecke gar nicht ausgestorben ist. So glaubten einige Wissenschaftler, wie etwa der Entomologe John Capinera in Grasshoppers of Colorado (1982) dass die Felsengebirgsschrecke lediglich eine wandernde Phase der heute existierenden Art Melanoplus sanguinipes war und heute als diese fortbesteht.
Einige Entomologen vermuteten, dass man Melanoplus sanguinipes unter bestimmten Bedingungen zu Schwärmen wie bei der Felsengebirgsschrecke züchten könnte, indem man hohe Populationsdichten erzeugt. Experimente, die versuchten, diese Theorie zu bestätigen, indem man Heuschrecken in dicht besiedelten Umgebungen hielt, blieben jedoch erfolglos. Die Theorie, dass die Rocky-Mountain-Heuschrecke durch eine Phasenverwandlung wiederbelebt werden könnte, wurde schließlich widerlegt.
Die Ergebnisse der 2004er-Studie von Chapco und Litzenberger bestätigen, dass die Rocky-Mountain-Heuschrecke eine eigenständige und keine wandernde Form einer existierenden Art ist. Sie unterscheidet sich deutlich von anderen Kurzfühlerschrecken (Caelifera), weshalb sie definitiv ausgestorben ist. Weiterhin legt das Ergebnis der Forschungen nahe, dass die Einordnung der Art in die Gattung Melanoplus zutreffend ist. Überraschenderweise zeigte sich, dass der nächste lebende Verwandte wahrscheinlich Melanoplus bruneri, eine mexikanische Heuschreckenart, ist, und nicht M. sanguinipes, wie zuvor vermutet.
Lehren aus der Geschichte der Felsengebirgsschrecke
In seinem Beitrag Voices from the Past: What Can We Learn from the Rocky Mountain Locust (2001) beleuchtet Jeffrey Lockwood die wertvollen Lehren, die wir aus der Geschichte der Rocky-Mountain-Heuschrecke ziehen können – insbesondere in Bezug auf Umweltbewusstsein und die unbeabsichtigten Folgen menschlicher Eingriffe in die Natur.
Eine der zentralen Erkenntnisse ist, dass selbst eine enorme Populationsgröße keine Garantie für das Überleben einer Art bietet. Trotz ihrer riesigen Schwärme, die ganze Landstriche verwüsteten, verschwand die Rocky-Mountain-Heuschrecke innerhalb weniger Jahrzehnte. Lockwood zeigt, dass auch weit verbreitete Arten aussterben können, wenn ihre Lebensräume durch menschliche Aktivitäten zerstört werden.
Ein weiterer wichtiger Punkt betrifft die unbeabsichtigten Folgen menschlicher Eingriffe. Das Aussterben der Heuschrecke war vermutlich eine unbeabsichtigte Folge der Besiedlung und landwirtschaftlichen Nutzung, insbesondere der Zerstörung ihrer Brutgebiete in Flussauen. Lockwood unterstreicht, dass menschliche Handlungen, selbst wenn sie nicht bewusst schädlich sind, tiefgreifende Auswirkungen auf die Umwelt haben können.
Der Verlust der Rocky-Mountain-Heuschrecke ist ein mahnendes Beispiel dafür, wie schnell Arten unwiederbringlich verschwinden können. Die langfristigen ökologischen Folgen bleiben unklar, doch einige Autoren, so auch der U.S. Fish & Wildlife Service (2006), vermuten einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden der Heuschrecke und dem Rückgang des Eskimo-Brachvogels (Numenius borealis). Diese Vogelart, die 1939 zuletzt nachgewiesen wurde, war während ihrer Frühjahrswanderung auf Heuschrecken als Nahrungsquelle angewiesen. Das Aussterben der Rocky-Mountain-Heuschrecke könnte den Druck auf die bereits schrumpfenden Brachvogelpopulationen zusätzlich erhöht haben, zusätzlich zu Faktoren wie der Jagd und der Umwandlung des Graslandlebensraums in Ackerland.
Lockwood betont zudem die Bedeutung von Schutzgebieten. Er zeigt auf, dass Arten, selbst solche mit großen Populationen, oft auf spezifische Habitate angewiesen sind. Der Schutz dieser Gebiete ist entscheidend für das Überleben vieler Arten. Abschließend warnt Lockwood davor, die Natur rein unter kommerziellen Gesichtspunkten zu betrachten. Die Rocky-Mountain-Heuschrecke wurde hauptsächlich als Schädling gesehen, ihre ökologische Bedeutung vernachlässigt. Diese wirtschaftsorientierte Sicht führte dazu, dass man das Aussterben der Art erst zu spät als Verlust erkannte.
Parallelen zwischen der Felsengebirgsschrecke und der Wandertaube
Die von Jeffrey Lockwood formulierten Lehren lassen sich fast nahtlos auf die Geschichte der Wandertaube übertragen, die einst als häufigste Vogelart der Welt galt. Beide Arten bildeten riesige Schwärme, die so groß waren, dass sie den Himmel verdunkelten. Berichte aus dem 19. Jahrhundert über Heuschreckenschwärme beschreiben, wie diese für Stunden die Sonne verdeckten – ähnlich wie bei den Schwärmen der Wandertaube, die ebenfalls den Himmel verdunkelten und über Tage hinweg am Himmel zu sehen waren. Sowohl die Schwärme der Felsengebirgsschrecke als auch die der Wandertaube richteten in Nordamerika verheerende Schäden an und fraßen ganze Felder leer.
Beide Arten starben Anfang des 20. Jahrhunderts aus und galten einst als so zahlreich, dass ihr Aussterben unvorstellbar schien. Sowohl die Felsengebirgsschrecke als auch die Wandertaube wurden aufgrund ihrer Schäden an der Landwirtschaft stark bekämpft und bejagt, was letztlich zu ihrem Verschwinden führte. In beiden Fällen zeigt sich, dass die Bekämpfung durch den Menschen, zusammen mit den Veränderungen ihres Lebensraums, das Ende dieser einst so zahlreich vorkommenden Arten herbeiführte.
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