Die letzten Riesenalke? Gemälde von Errol Fuller
Das Gemälde A Last Stand von Errol Fuller zeigt Riesenalke auf ihrer Brutinsel Eldey vor Island – vielleicht auch jene beiden Vögel, deren Häute und Organe nun durch genetische Analysen eindeutig identifiziert werden konnten. Errol Fuller, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons)

Lösung eines alten Rätsels: Forschende finden das letzte Riesenalk-Weibchen wieder

Am 3. Juni 1844 endete auf der isländischen Felseninsel Eldey ein Kapitel der Naturgeschichte: Die letzten Riesenalke der Welt wurden getötet. Ihr Tod markierte das endgültige Verschwinden einer Art, die einst die Küsten des gesamten Nordatlantiks bewohnte – von Neufundland über Grönland bis nach Schottland und Norwegen.

Am Vortag war das Schiff von Kapitän Hakonarsson zu der schroffen Insel vor der Südküste Islands aufgebrochen. Sein Auftrag: zwei große, flugunfähige Meeresvögel zu fangen, deren Art bereits als fast ausgestorben galt. Die Tiere hatten aus den wärmeren Regionen des Atlantiks tausende Kilometer nach Norden zurückgelegt, um auf dieser kleinen Insel ihr einziges Ei zu legen – so wie es die Riesenalke (Pinguinus impennis) seit Jahrtausenden getan hatten.

Eldey – der letzte Zufluchtsort des Riesenalks
Die Felseninsel Eldey vor der Südküste Islands war die letzte bekannte Brutstätte des Riesenalks.
Ziko van Dijk, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons)

Am Morgen des 3. Juni legte das Boot mit drei isländischen Männern am Riff der Insel an. Sie stiegen an Land, verscheuchten die dort brütenden Seevögel und begannen ihre Suche nach den „Pinguinen“, wie man die Riesenalke damals nannte. Nach einem Vulkanausbruch im Jahr 1830 war die nahegelegene Insel Geyrfuglasker mitsamt ihrer Kolonie im Meer versunken – Eldey war der letzte sichere Zufluchtsort der Art.

Als die Männer schließlich zwei Riesenalke entdeckten, erwürgten sie das Pärchen. Das Ei, auf dem das Weibchen saß, zerbrach im Gerangel – und keiner machte sich die Mühe, es mitzunehmen. Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass mit diesen beiden Vögeln die letzten bekannten Vertreter ihrer Art ausgelöscht wurden.

Zwar berichteten Fischer später von vereinzelten Sichtungen, unter anderem 1852 auf der Neufundlandbank vor Nordamerika – ein Hinweis, den auch die IUCN als letzte Sichtung akzeptiert. Doch wissenschaftlich gesichert ist kein Fund mehr. Das Riesenalk-Paar von Eldey gilt daher als das letzte zuverlässig belegte Vorkommen des Riesenalks.

Vom Jagdopfer zum Sammlerobjekt

Riesenalk-Organe
as sind die Organe der letzten beiden Riesenalke. Sie werden im Zoological Museum of Copenhagen aufbewahrt.
(modifiziert nach © FunkMonk (Michael B. H.), CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons)

Über Jahrhunderte hatte der Mensch den Riesenalk ausgebeutet – wegen seines Fleisches, Fetts und Öls, seiner Eier und seines dichten Flaumgefieders. Doch als die Art fast verschwunden war, begann ein neuer, nicht minder zerstörerischer Handel: Nun jagte man sie nicht mehr zum Verzehr, sondern für die Vitrinen der Museen und die Privatsammlungen wohlhabender Naturforscher. Präparate wurden zu begehrten Trophäen, für die man astronomische Summen zahlte.

Das Schicksal des letzten Riesenalk-Paares auf Eldey war damit besiegelt. Seine Körper wurden nach Reykjavik gebracht, wo ein Apotheker sie häutete, die Herzen, Augen und Speiseröhren in Whiskey einlegte, mit Walfett versiegelte und alles nach Dänemark schickte. Die Organe gelangten in die Sammlungen des Naturhistorischen Museums in Kopenhagen – doch die Bälge verschwanden bald aus den Archiven.

Mehr als ein Jahrhundert lang blieb unklar, in welchen Museen die Überreste der letzten Riesenalke schließlich landeten. Der britische Ornithologe Errol Fuller nannte dieses Rätsel in seinem Werk The Great Auk (1999) ein „ornithologisches Mysterium“.

2017: Die erste Hälfte des Rätsels wird gelöst

Mehr als 170 Jahre nach dem Tod der letzten Riesenalke gelang der Forscherin Jessica E. Thomas vom University College Kopenhagen ein entscheidender Durchbruch. Mithilfe moderner DNA-Technik verglich sie die mitochondrialen Genome der in Kopenhagen aufbewahrten Organe mit mehreren Museumspräparaten weltweit – und konnte das 1844 gesammelte Männchen eindeutig identifizieren. Es befindet sich heute im Königlichen Belgischen Institut für Naturwissenschaften in Brüssel. Doch die zweite Hälfte des Rätsels blieb ungelöst: Das Weibchen war weiterhin verschollen – bis jetzt.

Jessica Thomas beschäftigte sich schon seit Jahren mit dem Riesenalk. In ihrer Doktorarbeit (2019) hatte sie bis zu 15.000 Jahre alte Knochen genetisch untersucht und gezeigt, dass die Art einst eine große, stabile und genetisch vielfältige Population bildete – bis der Mensch im 16. Jahrhundert begann, sie systematisch zu jagen. Der Untergang war also nicht unvermeidlich, sondern menschengemacht.

Das letzte Riesenalk-Weibchen – die Wiederentdeckung

Das letzte Riesenalk-Männchen in Belgien
Das letzte bekannte Riesenalk-Männchen, erlegt im Juni 1844 auf der Insel Eldey. Das Präparat befindet sich heute im Königlichen Belgischen Institut für Naturwissenschaften in Brüssel.
MADe at Dutch Wikipedia, CC BY 1.0, via Wikimedia Commons)

In einer neuen Studie, veröffentlicht 2025 im Zoological Journal of the Linnean Society, setzten Jessica E. Thomas und ein internationales Forschungsteam die Spurensuche fort. Dafür war es zunächst nötig, den Weg des verschollenen Präparats durch Auktionen, Privatsammlungen und Museen zu rekonstruieren.

Bereits 1845 hatte der Kopenhagener Händler Israel die Häute des letzten Paares an den Amsterdamer Sammler G. A. Frank verkauft, der sie als „die letzten beiden existierenden Exemplare“ bezeichnete. Frank veräußerte die Stücke 1846 an den Grafen von Westerholt-Glikenberg. Später gelangten sie über den Londoner Händler Gardner und Lefevre in die Hände des englischen Naturforschers George Dawson Rowley, der in den 1860er-Jahren zwei Riesenalk-Präparate besaß, die er als Los Angeles Auk und Cincinnati Auk bezeichnete.

Nach Rowleys Tod im Jahr 1878 erbte sein Sohn die Sammlung und ließ sie 1934 in London versteigern. Dort erwarb der walisische Vogelsammler Captain Vivian Hewitt beide Präparate – zusammen mit zwei Riesenalk-Eiern. Hewitts gewaltige Sammlung umfasste mehr als 100.000 Vogelpräparate.

Als seine Sammlung mit seinem Tod 1974 aufgelöst wurde, gelangten vier Riesenalke aus seinem Besitz gelangten in verschiedene Museen: nach Birmingham, Cardiff, Los Angeles und Cincinnati. Dabei kam es offenbar zu einer Verwechslung – die Exemplare wurden vertauscht. Das Weibchen wurde in die USA verkauft, doch nicht – wie lange angenommen – nach Los Angeles, sondern nach Cincinnati.

Thomas und ihr Team bemerkten, dass die Dokumente und Verkaufsdaten des sogenannten Cincinnati Auk besser mit der Geschichte des weiblichen Vogels von Eldey übereinstimmten. Beide Häute – die des Männchens in Brüssel und die des Cincinnati-Riesenalks – gingen nachweislich auf denselben früheren Besitzer zurück: den Amsterdamer Händler G. A. Frank, der 1845 zwei Häute aus Kopenhagen erworben hatte, die eindeutig von den letzten beiden Vögeln stammten.

Diese auffällige Überschneidung in den Handelswegen und Besitzketten führte zur entscheidenden Hypothese: Das Präparat im Museum von Cincinnati könnte tatsächlich das letzte bekannte Riesenalk-Weibchen sein – eine Vermutung, die sich in der anschließenden genetischen Analyse bestätigen sollte.

Die genetische Analyse

Riesenalk – Staatliches Museum für Naturkunde in Stuttgart
In Museen und Sammlungen existieren heute noch etwa 80 Standpräparate und Bälge, 75 Eier und 24 vollständige Skelette des Riesenalks.
(© Doreen Fräßdorf, Staatliches Museum für Naturkunde in Stuttgart, 2025)

Um ihre Vermutung zu überprüfen, entnahmen die Forschenden winzige Gewebeproben aus der Fußsohle des ausgestopften Riesenalks im Museum of Natural History and Science in Cincinnati. Das Verfahren war so konzipiert, dass das über 170 Jahre alte Präparat nicht sichtbar beschädigt wurde – die Entnahme erfolgte an einer unauffälligen Stelle, mit sterilen Instrumenten.

Im Center for Evolutionary Hologenomics an der Universität Kopenhagen wurde das kleine Stück Haut verarbeitet. Mithilfe modernster Techniken zur Analyse von alter DNA (aDNA) – stark fragmentierter, teils chemisch veränderter Erbsubstanz – isolierten die Forschenden das mitochondriale Genom aus den Zellresten.

Um den Vergleich zu ermöglichen, öffnete Jessica Thomas im dänischen Museum die originalen, seit 1844 versiegelten Whiskeygläser mit den Organen der letzten Riesenalke – zum ersten Mal seit über 170 Jahren. „Der Geruch war überraschend angenehm“, erinnerte sie sich später gegenüber dem Magazin Science.

Die DNA des Cincinnati-Vogels wurde anschließend mit den vollständigen mitochondrialen Genomen anderer Riesenalk-Präparate verglichen. Das Ergebnis war eindeutig: Die Sequenz des Cincinnati-Exemplars stimmte vollständig mit der des in Kopenhagen aufbewahrten Herzens des letzten bekannten Weibchens überein. Kein anderes der über 80 weltweit erhaltenen Riesenalk-Präparate zeigte diese DNA-Sequenz.

Damit ist belegt: Das Präparat in Cincinnati ist das letzte bekannte Riesenalk-Weibchen – das Gegenstück zu dem Männchen, das im Königlichen Belgischen Institut für Naturwissenschaften in Brüssel aufbewahrt wird.

Cincinnati – die Stadt der Endlinge

Es ist bemerkenswert, dass das letzte Riesenalk-Weibchen ausgerechnet in Cincinnati gelandet ist. Denn dort endeten bereits zwei andere Arten tragisch: Am 1. September 1914 starb die letzte bekannte Wandertaube (Ectopistes migratorius), bekannt unter dem Namen Martha, im Zoo der Stadt. Keine vier Jahre später, am 21. Februar 1918, folgte der letzte Karolinasittich (Conuropsis carolinensis) namens Inca – angeblich im selben Käfig. Seine Überreste sind bis heute verschollen. Beide Arten verschwanden durch exzessive Bejagung, Verfolgung und Lebensraumzerstörung – genau wie der Riesenalk.

Die letzten bekannten Individuen einer Art werden heute als Endlinge bezeichnet. Oft tragen sie einen Namen, und manche, wie Martha, werden zu Symbolfiguren für den unwiederbringlichen Verlust. Als präparierte Exemplare erinnern sie in Museen an die Endgültigkeit des Aussterbens.

Heute ruht das letzte Riesenalk-Weibchen im Depot des Museums in Cincinnati, geschützt vor Licht und Temperaturschwankungen. Doch die Forschenden sehen die neue Studie als Anlass, das Präparat bald wieder öffentlich zu zeigen.

Die letzten Riesenalke: Ein 180 Jahre altes Rätsel gelöst

Mit der neuen Studie ist ein lange offenes Rätsel der Ornithologie geklärt. Die Forschenden konnten zeigen, dass moderne genetische Methoden historische Fehlzuordnungen auflösen und selbst nach fast zwei Jahrhunderten präzise Antworten liefern können. Die Identifizierung des letzten Riesenalk-Paares verdeutlicht, wie eng molekulare Analysen und historische Spurensuche zusammenwirken.

Die Geschichte des Riesenalks macht zugleich deutlich, dass das Aussterben einer Art nicht nur einen biologischen Verlust bedeutet, sondern auch ein Stück Kultur- und Wissenschaftsgeschichte betrifft.

Quellen

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