Im Frühjahr 2024 wurde im Big Bend Nationalpark im Südwesten von Texas eine bislang unbekannte Pflanzenart dokumentiert. Die Region liegt im Herzen der Chihuahuan-Wüste, der größten warmen Wüste Nordamerikas, die durch eine außergewöhnlich hohe biologische Vielfalt gekennzeichnet ist. Auf einer Fläche von über 320.000 Hektar bietet der Nationalpark eine Vielzahl unterschiedlicher Lebensräume – von wüstenartigen Ebenen über kalkhaltige Schuttflächen bis hin zu den bis zu 2.385 Meter hohen Chisos Mountains.
Taxonomische Einordnung und Entdeckungsgeschichte
Ihre wissenschaftliche Bezeichnung lautet Ovicula biradiata. Der Gattungsname Ovicula leitet sich vom lateinischen „ovis“ (Schaf) und dem Diminutiv „-cula“ ab und verweist auf den dichten Haarfilz, der an Schafwolle erinnert. Gleichzeitig ehrt der Name das Wüsten-Dickhornschaf (Ovis canadensis nelsonii), eine charakteristische, aber bedrohte Tierart der Region, deren Bestände sich derzeit erholen. Das Artepitheton biradiata („zweistrahlig“) bezieht sich auf die in der Regel zwei auffälligen Strahlenblüten, die an gegenüberliegenden Seiten des Blütenstands erscheinen. Als empfohlener englischer Trivialname wurde „Woolly Devil“ (wolliger Teufel) vorgeschlagen – eine Anspielung auf das wollige Erscheinungsbild, die Nähe zum Fundort „Devil’s Den“ und die hornartige Form der Blüten.
Entdeckt wurde die Pflanze am 2. März 2024 im Rahmen einer botanischen Erhebung durch Deb Manley, die später auch als Erstautorin an der wissenschaftlichen Erstbeschreibung beteiligt war. Erste Fotos wurden auf der Plattform iNaturalist veröffentlicht, einer digitalen Plattform zur Dokumentation von Artenfunden durch Bürgerwissenschaft. Aufgrund des auffälligen Aussehens und der fehlenden Übereinstimmung mit bekannten Arten wurde in der Folge eine genauere Untersuchung eingeleitet. Die Kombination aus morphologischer Analyse, mikroskopischer Bildgebung und molekulargenetischer Untersuchung (ITS-Sequenzierung) bestätigte schließlich: Es handelt sich um eine bislang unbeschriebene Art – und aufgrund ihrer Merkmale zugleich um eine eigenständige Gattung innerhalb der Familie der Korbblütler (Asteraceae). Diese Familie umfasst über 30.000 Arten, darunter bekannte Vertreter wie Sonnenblumen, Gänseblümchen und Astern.
Was macht Ovicula biradiata so besonders?

(© John Cummings, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons)
Ovicula biradiata weist eine Reihe auffälliger morphologischer Merkmale auf, die sie deutlich von verwandten Gattungen unterscheiden. Besonders charakteristisch ist die dichte, weißlich-wollige Behaarung der gesamten Pflanze, die eine funktionale Anpassung an den extrem trockenen Lebensraum darstellt. Sie dient dem Schutz vor UV-Strahlung, reduziert Wasserverlust durch Verdunstung und bietet eine gewisse Abschirmung gegenüber Fressfeinden.
Auffällig sind zudem die kleinen, meist zweizähligen Zungenblüten mit weinroten Streifen, die an gegenüberliegenden Seiten des Blütenkopfes angeordnet sind. Die Früchte besitzen borstenartige, hyaline Schuppen – ein Merkmal, das innerhalb der Subtribus Tetraneurinae vergleichsweise selten vorkommt.
Die Wuchsform ist niedrig und bodennah, mit einer Ausdehnung von nur wenigen Zentimetern. In Verbindung mit der hellen Färbung trägt dies dazu bei, dass die Pflanze auf dem kalkhaltigen Schuttboden ihres Habitats visuell kaum zu erkennen ist. In regenarmen Jahren bleibt sie vollständig im Boden verborgen und ist oberirdisch nicht nachweisbar.
Diese Kombination aus spezialisierten Merkmalen und ökologischer Nischenbindung unterstreicht die Eigenständigkeit von Ovicula biradiata innerhalb der artenreichen Familie der Asteraceae.
Warum Ovicula biradiata vom Aussterben bedroht ist

(© Manley et al. 2025, PhytoKeys, CC BY 4.0)
Trotz ihrer wissenschaftlichen Bedeutung ist Ovicula biradiata bereits zum Zeitpunkt ihrer Erstbeschreibung als gefährdet einzustufen. Die Art ist bislang nur von einem sehr kleinen Areal im Big Bend Nationalpark bekannt und an einen spezifischen Standorttyp gebunden: kalkreiche Schuttflächen in der Chihuahuan-Wüste. Dieser Lebensraum ist nicht nur selten, sondern auch besonders anfällig für klimatische Veränderungen.
Hinzu kommt, dass Ovicula biradiata nur in regenreichen Jahren oberirdisch sichtbar wird. In niederschlagsarmen Phasen verbleibt sie vollständig im Boden, was ihre langfristige Beobachtung und Erfassung erschwert. Die zunehmende Trockenheit in der Region, bedingt durch den Klimawandel, verringert die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Keimung und Blüte weiter. Bereits heute wird aus dem Nationalpark über eine zunehmende Verarmung der Vegetation berichtet.
Die Kombination aus geringer geographischer Verbreitung, enger ökologischer Nischenbindung und abnehmender Niederschlagswahrscheinlichkeit macht die Art besonders störanfällig. Es ist nicht auszuschließen, dass Ovicula biradiata in absehbarer Zeit erneut über längere Zeiträume unauffindbar bleibt oder vollständig aus ihrem bekannten Habitat verschwindet.
Ein vergleichbares Beispiel ist das Aussterben des Key-Largo-Baumkaktus (Pilosocereus millspaughii) in den USA, der infolge von Meeresspiegelanstieg und Salzwassereintrag in seinem einzigen Vorkommensgebiet auf den Florida Keys erloschen ist.
Ein Schatz der Chihuahuan-Wüste
Der Big Bend Nationalpark gilt als eines der artenreichsten Schutzgebiete der Vereinigten Staaten innerhalb der warmen Wüsten Nordamerikas. Mit über 89 dokumentierten Pflanzenarten von besonderem Schutzinteresse bietet er ein bedeutendes Rückzugsgebiet für seltene und endemische Flora. Viele dieser Arten kommen ausschließlich in dieser Region vor oder haben hier ihren nördlichsten Verbreitungsschwerpunkt, wobei zahlreiche Vorkommen grenzüberschreitend in angrenzende mexikanische Wüstenlebensräume hineinreichen.
Die Entdeckung von Ovicula biradiata bestätigt, dass die floristische Erfassung auch in gut untersuchten Schutzgebieten noch nicht abgeschlossen ist – insbesondere in abgelegenen, schwer zugänglichen Lebensräumen. Sie unterstreicht zudem die hohe ökologische Bedeutung sogenannter Mikrohabitate wie kalkhaltiger Schuttflächen, deren floristische Zusammensetzung oft übersehen wird, obwohl sie wichtige Rückzugsräume für spezialisierte Arten darstellen.
Vor dem Hintergrund zunehmender Klima- und Habitatveränderungen wird deutlich, wie entscheidend es ist, seltene Arten frühzeitig zu dokumentieren, um ihre ökologische Rolle zu verstehen und gegebenenfalls Schutzmaßnahmen einzuleiten. Der Fall von Ovicula biradiata macht deutlich, dass sich die Herausforderungen des Artensterbens nicht auf tropische Regenwälder oder Korallenriffe beschränken – auch in den Trockengebieten Nordamerikas geraten spezialisierte Arten zunehmend unter Druck.
Quelle
- Manley, D. L., Lichter Marck, I. H., Peralta, K., Castro Castro, A., Wogan, K. A., Whiting, C. V., & Powell, A. M. (2025). Ovicula biradiata, a new genus of Compositae from Big Bend National Park in Trans-Pecos Texas. PhytoKeys, 252, 141–162. https://doi.org/10.3897/phytokeys.252.137624
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