Laut des IPBES-Berichts aus dem letzten Jahr zählen invasive Arten zu den Hauptursachen für das weltweite Artensterben. Sie sind für 60 Prozent aller dokumentierten Ausrottungen verantwortlich. Auch in Deutschland haben sich einige dieser gebietsfremden Arten etabliert, darunter der Waschbär aus Nordamerika, die Nutria aus Südamerika und der Marderhund aus Asien.
Doch eine aktuelle Studie von Biologen der Universität Wien und der Universität La Sapienza in Rom, veröffentlicht im Fachjournal Conservation Letters, zeigt ein paradoxes Bild: Einige der durch Menschen eingeführten Arten, die in neuen Lebensräumen invasiv und problematisch sein können, sind in ihrem ursprünglichen Verbreitungsgebiet selbst vom Aussterben bedroht. Der Naturschutz steht somit vor der Herausforderung, zu entscheiden, ob solche Arten in ihren neuen Lebensräumen geschützt werden sollten, obwohl sie dort negative Auswirkungen auf die heimische Biodiversität haben können.
Wie bedroht sind gebietsfremde Arten in ihrer Heimat?
Die Forschenden analysierten mithilfe der DAMA-Datenbank (Distribution of Alien Mammals) Daten zu 230 weltweit etablierten gebietsfremden Säugetierarten und verglichen diese mit Informationen der IUCN Roten Liste. Ziel war es, Arten zu identifizieren, die in ihrer Heimat bedroht, aber in ihren neuen Lebensräumen stabile Populationen aufweisen.
Das Ergebnis ist überraschend: 36 der 230 untersuchten Arten sind in ihrem Ursprungsgebiet bedroht. Davon gelten 17 Prozent als vom Aussterben bedroht, 25 Prozent als stark gefährdet und 58 Prozent als gefährdet. Viele dieser Arten wurden ursprünglich für die Jagd innerhalb Asiens eingeführt. Heute finden sich ihre neuen Verbreitungsgebiete vor allem in Südostasien und im Osten Australiens.
Zuhause bedroht, woanders zahlreich – Drei Beispiele
Die Studie zeigt, dass viele bedrohte Arten aus den tropischen Regionen Asiens stammen, wo sie unter Regenwaldzerstörung und Überjagung leiden. Gleichzeitig haben einige dieser Arten durch menschliche Einführung in neuen Lebensräumen stabile Populationen aufgebaut, die ihnen bessere Überlebenschancen bieten könnten. Dieses Paradoxon des Naturschutzes wird in folgenden Beispielen deutlich: Während diese Arten in ihrer Heimat stark gefährdet sind, finden sie in ihren neuen Lebensräumen oft bessere Bedingungen vor – allerdings mit potenziellen Risiken für die lokale Biodiversität.
Ein Beispiel ist das Wildkaninchen (Oryctolagus cuniculus), das in Europa durch Krankheiten wie Myxomatose und Lebensraumverlust bedroht ist. In Australien hingegen, wo es im 18. und 19. Jahrhundert als Fleischlieferant und Jagdwild eingeführt wurde, hat es sich massiv vermehrt und gilt heute als Plage. Neben Australien wurden Wildkaninchen auch in Neuseeland, Südafrika, Nord- und Südamerika sowie auf zahlreichen Pazifikinseln, vor Afrikas Küsten und in der Karibik angesiedelt.
Ein weiteres Beispiel ist der Schopfaffe (Macaca nigra), der ursprünglich ausschließlich auf Sulawesi in Indonesien lebte. Dort ist er durch Bejagung – sei es als Fleischlieferant oder aufgrund von Konflikten mit Landwirten – und durch die Zerstörung seines Lebensraums vom Aussterben bedroht. Seit 1978 ist sein Bestand in der Heimat um 85 Prozent zurückgegangen. Auf anderen indonesischen Inseln wie Bacan, wo er zur Heimtierhaltung und für kulturelle Zwecke eingeführt wurde, haben sich jedoch stabile Populationen entwickelt, die inzwischen größer sind als die in seinem Ursprungsgebiet.
Der Banteng (Bos javanicus), ein Wildrind aus Südostasien, ist in seiner Heimat ebenfalls stark bedroht. Die Bestände auf Java, Borneo und dem asiatischen Festland sind durch Wilderei und Lebensraumverlust dramatisch zurückgegangen. In Ländern wie Thailand wurde zwischen 1980 und 2000 ein Rückgang von 85 Prozent verzeichnet, während die Art in Laos, Kambodscha, Vietnam und China nahezu ausgestorben ist. Überraschenderweise befindet sich die weltweit größte Population dieser Art heute in Australien. Die Tiere wurden in den 1840er-Jahren im Northern Territory angesiedelt, um Fleisch zu liefern und als Arbeitstiere zu dienen. Nach der Aufgabe der Kolonie verwilderten die Bantengs und bildeten stabile Populationen.
Doppelte Herausforderung: Fremde Arten retten und heimische Artenvielfalt schützen
Die globale Bewertung des Aussterberisikos berücksichtigt bislang nur Populationen in den Ursprungsgebieten. Die neue Studie zeigt aber, dass bei 22 Prozent der untersuchten Arten das Aussterberisiko geringer ausfallen würde, wenn auch gebietsfremde Populationen einbezogen werden. So könnte beispielsweise der IUCN-Status des Wildkaninchens, das in Europa bedroht ist, durch die stabilen Populationen in Australien von „bedroht“ auf „unbedenklich“ herabgestuft werden.
Dieses Ergebnis verdeutlicht ein zentrales Dilemma: Einerseits könnten gebietsfremde Populationen gefährdeten Arten helfen zu überleben. Andererseits können diese Populationen neue Bedrohungen für heimische Arten und Ökosysteme darstellen. Solche Bedrohungen umfassen Konkurrenz, die Übertragung von Krankheiten oder Veränderungen in der lokalen Biodiversität.
Der Naturschutz steht vor der schwierigen Aufgabe, zwischen den Vorteilen für gefährdete Arten und den potenziellen Schäden für andere Lebensräume abzuwägen. Der Schutz von Arten in ihren Ursprungsgebieten muss weiterhin Priorität haben, da diese häufig durch Lebensraumverlust, Bejagung oder andere Bedrohungen gefährdet sind. Gleichzeitig zeigt die Realität, dass einige Arten außerhalb ihrer Heimat langfristig bessere Überlebenschancen haben könnten. Dies verdeutlicht, wie tiefgreifend die Globalisierung die Verteilung und den Schutz von Arten beeinflusst und welche neuen Herausforderungen sie für den Naturschutz mit sich bringt.
Quelle
- Tedeschi, Lisa & Lenzner, Bernd & Schertler, Anna & Biancolini, Dino & Essl, Franz & Rondinini, Carlo. (2024). Threatened Mammals With Alien Populations: Distribution, Causes, and Conservation. Conservation Letters. 10.1111/conl.13069.
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