Jahrzehntelang galt er als verschollen – vielleicht sogar als ausgestorben. Doch nun gibt es neue Hoffnung für Haplochromis microdon, eine endemische Buntbarschart aus dem Viktoriasee: Wie die Organisation SHOAL in einem Artikel von Anna Mahulu berichtet, konnte die Art bei gezielten Forschungsfahrten in den Jahren 2023 und 2024 erstmals seit 1985 wieder nachgewiesen werden. Ein kleiner Fund mit großer Bedeutung – nicht nur für den Artenschutz, sondern für das Verständnis eines der schwersten Biodiversitätsverluste der Neuzeit.
Ein Relikt aus der verschwundenen Welt der Furu
Haplochromis microdon, auch bekannt unter dem Synonym Lipochromis microdon, gehört zu den hochspezialisierten Buntbarscharten des Viktoriasees. Als sogenannter Pädophage oder Fischbrutfresser ernährt er sich von den Larven anderer – oder sogar seiner eigenen – Buntbarschverwandten. Diese ungewöhnliche Ernährungsweise ist Ausdruck der enormen ökologischen Differenzierung innerhalb der Furu, wie die im See lebenden Buntbarsche in Ostafrika genannt werden. Neben Pädophagen gab es im Viktoriasee unter anderem Algenfresser, Insektenfresser, Schneckenfresser, Schlammsieber, Parasitenfresser, Schuppenfresser und sogar Fischfresser – jede Art perfekt angepasst an ihre eigene Nische.

(© Boulenger, George Albert; Loat, L., Public domain, via Wikimedia Commons)
Diese außergewöhnliche Vielfalt ist das Ergebnis einer extrem schnellen adaptiven Radiation. Seit der letzten Austrocknung des Sees vor rund 12.000 Jahren sind aus wenigen Vorfahren schätzungsweise 500 endemische Arten hervorgegangen – nahezu alle aus der Gattung Haplochromis. Die Tiere unterschieden sich in Körperform, Kiefermechanik, Zähnen und Verhalten und besetzten die unterschiedlichsten Lebensräume und Nahrungstypen. Der Viktoriasee galt deshalb lange Zeit als eines der bedeutendsten natürlichen Evolutionslabore der Welt.
Haplochromis microdon war in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren besonders im nördlichen Teil des Mwanza-Golfs häufig anzutreffen. Stichproben mit Grundschleppnetzen zeigten Fanghäufigkeiten von bis zu 72 Prozent (1978) beziehungsweise 60 Prozent (1979–1982). Doch ab Mitte der 1980er-Jahre brach die Population drastisch ein. In allen späteren Untersuchungszeiträumen – etwa 1987/88, 1993/95 und 2006/08 – wurde kein einziges Exemplar mehr nachgewiesen. Seit 1983 galt die Art als verschollen. Die IUCN führt sie seither als „möglicherweise ausgestorben“.
Die große Katastrophe im Viktoriasee

(© NASA, Public domain, via Wikimedia Commons)
Das Verschwinden von Haplochromis microdon ist kein Einzelfall – es steht exemplarisch für den massiven Artenverlust im Viktoriasee. Was einst eines der artenreichsten Süßwasserökosysteme der Welt war, verarmte innerhalb weniger Jahrzehnte enorm. Wie viele Arten genau verschwunden sind, lässt sich kaum beziffern, da vor den tiefgreifenden ökologischen Veränderungen keine vollständige Erfassung der Fischfauna erfolgte. Konservative Schätzungen gehen von mehr als 200 ausgestorbenen oder stark dezimierten Furu-Arten aus. Andere Quellen – wie die Dokumentation Darwin’s Nightmare – sprechen sogar von bis zu 400 ausgelöschten Arten, darunter auch Haplochromis vonlinnei, der nur durch fünf zwischen 1978 und 1980 gefangene Exemplare bekannt ist.
Hauptverantwortlich für diesen Kollaps war die gezielte Einführung des Nilbarschs (Lates niloticus) durch britische Kolonialbeamte in den 1950er-Jahren. Der Raubfisch, bis zu zwei Meter lang und 200 Kilogramm schwer, sollte den Fischfang wirtschaftlich rentabler machen. Doch der Plan wurde zum ökologischen Desaster: Der Nilbarsch breitete sich explosionsartig aus und fraß sich durch die Bestände endemischer Arten – vor allem durch die fischfressenden und räuberischen Furu, zu denen auch H. microdon zählt.
Der niederländische Biologe Tijs Goldschmidt schildert die Ausbreitung des Nilbarschs in seinem Buch Darwins Traumsee (1999) folgendermaßen:
„Wie die Kreise rund um den Stein, der ins Wasser geworfen wird, scheint der Nilbarsch sich wellenförmig von der Stelle in Uganda zu verbreiten, wo er eingesetzt wurde.“
Der Viktoriasee wurde damit zum Schauplatz eines der größten dokumentierten Artensterben in einem Süßwasserökosystem weltweit – und zum Mahnmal für die weitreichenden Folgen menschlicher Eingriffe in komplexe Lebensgemeinschaften.
Die überraschende Wiederentdeckung
Nach mehrjähriger Pause nahm das Forschungsteam um den Schweizer Evolutionsbiologen Ole Seehausen in den Jahren 2023 und 2024 die regelmäßigen Erfassungen der haplochrominen Artenvielfalt im Viktoriasee wieder auf. Der Fokus lag auf Felsriffen im südlichen Teil des Mwanza-Golfs – Lebensräume, die einst als Hotspots für spezialisierte Buntbarsche wie Haplochromis microdon galten.
Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten: 2023 wurde ein männliches Exemplar von H. microdon gefangen; ein Jahr später – erneut am exakt selben Ort – entdeckten die Forschenden ein weiteres Männchen.
Was diesen Fund so besonders macht: Die betreffende Stelle war zwischen 1989 und 2015 mehrfach beprobt worden, ohne dass H. microdon je gesichtet wurde. Auch 2023 und 2024 wurden zahlreiche andere Standorte untersucht – doch nur an diesem einen, eng begrenzten Ort tauchte die Art auf. Alles deutet darauf hin, dass H. microdon nur noch in extrem geringer Dichte überlebt, möglicherweise in einem winzigen, bislang übersehenen Rückzugsraum.
Mehr als nur ein Raubfischproblem
Der ökologische Zusammenbruch im Viktoriasee war kein singuläres Ereignis, sondern das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels aus invasiven Arten, Umweltverschmutzung und wachsendem menschlichen Druck. Der Nil- oder Viktoriabarsch mag der prominenteste Faktor gewesen sein – doch er war bei Weitem nicht der einzige.
- Überfischung: Auch wenn Haplochromis microdon nie ein gezieltes Fangziel war, wurde er wie viele andere Furu-Arten als Beifang gefangen. Bereits vor der massenhaften Ausbreitung des Nilbarschs gingen die Bestände vieler Arten stark zurück – insbesondere in den flacheren, gut zugänglichen Uferbereichen mit hoher Fischereidichte.
- Eutrophierung: Durch Entwaldung, intensive Landwirtschaft, unzureichende Abwasserentsorgung und Bodenerosion gelangten große Mengen Nährstoffe – insbesondere Phosphor und Stickstoff – in den See. Die Folge: massive Algenblüten, verminderte Lichtdurchlässigkeit und Sauerstoffmangel, besonders in tieferen Wasserschichten. Lebensräume für viele spezialisierte Arten wurden so unbewohnbar.
- Hybridisierung durch Wassertrübung: Die starke Eintrübung des Wassers hatte weitreichende Folgen für das Fortpflanzungsverhalten vieler Furu. Weibchen wählen ihre Partner oft anhand spezifischer Färbungsmuster. Ist das Wasser zu trüb, verschwimmen diese Signale – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Die Folge: Paarungen zwischen nah verwandten Arten nahmen zu, seltene genetische Linien verschwanden durch Hybridisierung.
- Wasserverschmutzung & invasive Pflanzen: Zusätzlich zur Nährstoffbelastung beeinträchtigten invasive Pflanzen wie die Wasserhyazinthe (Pontederia crassipes) das Ökosystem massiv. Mitte der 1990er-Jahre bedeckte sie zeitweise bis zu 90 Prozent der ugandischen Uferlinie. Die dichte Vegetation verdrängte nicht nur einheimische Wasserpflanzen, sondern führte auch zum Rückgang vieler Fischarten durch Sauerstoffmangel und Habitatverlust.

(© Boulenger, George Albert, Public domain, via Wikimedia Commons)
Warum die Wiederentdeckung so wichtig ist
Die Sichtung von Haplochromis microdon nach fast vier Jahrzehnten ist ein seltener Lichtblick – und zugleich ein Weckruf. Die Art hat offenbar in einem winzigen Rückzugsraum überlebt, während sie jahrzehntelang als verschollen oder gar ausgestorben galt. Ihr Wiederauftauchen zeigt: Biodiversitätsverluste sind oft schleichend und unsichtbar, aber nicht immer unumkehrbar. Manche Arten verschwinden aus dem Blick der Forschung, ohne tatsächlich verschwunden zu sein.
Doch dieser Fund ist mehr als ein Hoffnungssymbol – er ist ein deutlicher Appell. Denn die Ursachen, die zum Verschwinden der Furu geführt haben, sind nach wie vor präsent: Lebensraumverlust, Überfischung, Eutrophierung und invasive Arten bedrohen weiterhin die letzten Überlebenden. Ohne Maßnahmen zum Schutz und zur Wiederherstellung des Ökosystems werden auch sie bald nur noch in alten Fangstatistiken auftauchen.
Was jetzt zu tun ist
Damit Haplochromis microdon nicht erneut in der Versenkung verschwindet – diesmal endgültig –, braucht es entschlossenes Handeln:
- Gezielte Schutzmaßnahmen für überlebende Furu-Populationen
- Langfristiges Monitoring an bekannten und potenziellen Rückzugsorten
- Verbesserte Wasserqualität, etwa durch nachhaltige Landwirtschaft, Erosionsschutz und funktionierende Abwasserbehandlung
- Aufklärung und fischereipolitische Strategien, die lokale Lebensgrundlagen sichern, ohne die verbleibende Biodiversität weiter zu gefährden
Die Wiederentdeckung von Haplochromis microdon zeigt, dass Arten selbst unter extremen Bedingungen überleben können – aber auch, wie knapp sie am endgültigen Verschwinden vorbeischrammen.
Quelle
- Mahulu, A. (2025, 28. März). Cichlid species, previously ‘lost’ to science rediscovered in Lake Victoria!. SHOAL Conservation. https://shoalconservation.org/lipochromis-microdon/
Unterstütze diesen Blog! Wenn dir dieser Beitrag gefallen hat, ziehe bitte eine kleine Spende in Betracht. Jeder Beitrag, egal wie klein, macht einen Unterschied. Deine Spende ermöglicht es mir, den Blog werbefrei zu halten und auf Bezahlschranken zu verzichten, damit alle Leser freien Zugang zu den Inhalten haben. Du kannst ganz einfach über den Spendenbutton spenden oder mir ein Buch aus meiner Amazon Wunschliste schenken. Jeder Betrag zählt und wird sehr geschätzt! Vielen Dank für deine Unterstützung!