Elbeästuar / Elbmündung
Containerschiff im Elbeästuar bei Cuxhaven: Die wiederholte Vertiefung der Fahrrinne hat die Strömungs- und Sedimentverhältnisse stark verändert – mit Folgen für das gesamte Ökosystem. BAW_Bundesanstalt für Wasserbau, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons)

Wenn das Meer den Fluss verdrängt: Bis zu 90 % weniger Fische in der Elbmündung

Wo sich Süßwasser und Meer begegnen, lag einst eine der artenreichsten Zonen Norddeutschlands – heute ist dieser Übergangsraum fast leergefegt. In der Elbmündung, wo der Fluss in die Nordsee übergeht, ist das Leben aus dem Gleichgewicht geraten. Eine neue Langzeitstudie zeigt, wie massiv die Fischfauna dort innerhalb weniger Jahrzehnte zusammengebrochen ist.

Über vierzig Jahre lang haben Forschende des Leibniz-Instituts zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB) und der Universität Hamburg das Elbeästuar systematisch untersucht. Ihr Ergebnis ist mehr als nur besorgniserregend: Seit 2010 ist der Gesamtbestand aller Fischarten um mehr als 90 % eingebrochen – auf den niedrigsten Stand seit Beginn der Aufzeichnungen.

Veröffentlicht im Fachjournal Estuarine, Coastal and Shelf Science (Theilen et al., 2025), dokumentiert die Studie, wie sensibel dieses Ökosystem auf Baggerungen, Klimaveränderungen und veränderte Abflussmengen reagiert – und wie schnell sich ein ehemals produktiver Lebensraum in eine ökologische Problemzone verwandeln kann.

Vier Jahrzehnte Forschung

Das Forschungsteam analysierte Daten aus den Jahren 1984 bis 2022 an fünf festen Messstationen zwischen Hamburg-Finkenwerder (Mühlenberger Loch) und Cuxhaven – also über die letzten 80 Kilometer der Elbe. Dieser Abschnitt umfasst Süßwasser-, Brackwasser- und Salzwasserzonen – Lebensräume mit enormer Artenvielfalt, aber auch hoher Belastung durch Baggerungen, Schifffahrt und Einleitungen.

Mit standardisierten Befischungen und regelmäßigen Messungen physikalisch-chemischer Parameter wie Sauerstoff, Nährstoffgehalt und Salzgehalt entstand eine der längsten und aussagekräftigsten Zeitreihen Europas.

Von der „Kloake Europas“ zur Kinderstube – und zurück

Wittling Merlangius merlangus
Einst selten im Süßwasser der Unterelbe, ist der Wittling heute einer der Gewinner des ökologischen Wandels: Mit dem steigenden Salzgehalt dringt die Art immer weiter flussaufwärts vor – während klassische Ästuarfische verschwinden.
(© Canva Pro)

In den 1980er-Jahren galt die Elbe als einer der am stärksten verschmutzten Flüsse Europas. Hohe Nitrit- und Ammoniumwerte führten regelmäßig zu Sauerstoffmangel, ganze Fischgenerationen erstickten. Mit den umfassenden Sanierungsmaßnahmen der 1990er-Jahre begann eine Phase der Erholung: Die Nährstoffbelastung sank, der Sauerstoffgehalt stieg, und die Elbe wurde allmählich wieder zur Kinderstube für zahlreiche Fischarten – allen voran den Europäischen Stint (Osmerus eperlanus), die Schlüsselfigur des Elbeästuars.

Zwischen 1984 und 2010 stieg seine Dichte von etwa 12.000 auf 168.000 Individuen pro Million Kubikmeter Wasser. Doch seitdem kam der Einbruch: 2022 lag die Fischdichte wieder auf dem Niveau der frühen 1980er – ein Rückgang um über 91 %.

Besonders betroffen sind Arten, die den Wechsel von Süß- und Salzwasser gewohnt sind: Finte (Alosa fallax), Flunder (Platichthys flesus), Kaulbarsch (Gymnocephalus cernua), Brasse (Abramis brama), Zander (Sander lucioperca), Flussneunauge (Lampetra fluviatilis) und der Europäische Aal (Anguilla anguilla). Lediglich einige marine Arten wie Hering (Clupea harengus) und Wittling (Merlangius merlangus) nahmen leicht zu – ein Hinweis auf die zunehmende Durchmischung von Fluss- und Meeresfauna.

Der Stint als Schlüsselfigur im Ökosystem

Elena Hauten, Co-Autorin der Studie, betont in der LIB-Mitteilung: „Insbesondere der Stint ist ein unerlässlicher Futterfisch für Küstenvögel und andere räuberische Fische. Sein Verschwinden hätte dramatische Folgen für das gesamte Ökosystem.“ Tatsächlich hängt das Nahrungsnetz der Elbmündung eng von dieser Art ab: See- und Flussseeschwalben, Kormorane und größere Raubfische sind auf den kleinen, silberglänzenden Wanderfisch angewiesen. Sein Rückgang trifft daher nicht nur die Fischfauna, sondern auch die Vogelbestände im angrenzenden Wattenmeer.

Gerade weil der Stint zentrale Beute für Küstenvögel ist, verschärft sein Rückgang die ohnehin angespannte Lage im Wattenmeer, wo laut einer aktuellen Global Change Biology-Studie viele Fisch-, Pflanzen- und Vogelarten seit den 1990er-Jahren teils massiv zurückgehen.

Ursachen für das Fischsterben in der Elbmündung

Die Gründe für den Rückgang der Fischfauna sind vielfältig, greifen ineinander – und sind ausnahmslos vom Menschen verursacht. Das fragile Gleichgewicht zwischen Fluss und Meer gerät aus mehreren Richtungen unter Druck.

  • Zunehmende Trübung und Sedimentablagerung
    Wiederholte Elbvertiefungen und ständige Unterhaltungsbaggerungen haben die Konzentration an Schwebstoffen im Wasser massiv erhöht. Die Folge: weniger Licht, geringere Algenproduktion und verschlickte Uferzonen.
    Vor allem Larven und Jungfische verlieren dadurch ihre Kinderstuben – sie ersticken buchstäblich im Sediment. Beim Kaulbarsch wurde laut LIB-Mitteilung sogar ein verlangsamtes Wachstum bei subadulten und adulten Tieren nachgewiesen. Auch Jungzander wachsen heute deutlich langsamer als noch vor zwei Jahrzehnten.
  • Geringere Abflüsse und steigender Salzgehalt
    Seit etwa 2014 führt die Elbe deutlich weniger Wasser, bedingt durch geringere Niederschläge und veränderte Niedrigwasserphasen.
    Dadurch wird weniger Sediment aus der Mündung hinausgetragen, während salzhaltiges Nordseewasser weiter flussaufwärts vordringt. Das verschiebt die natürlichen Salzgradienten und verändert die Lebensbedingungen vieler Süßwasserarten grundlegend.
  • Sauerstoffmangel in heißen Sommern
    Mit den steigenden Wassertemperaturen nehmen auch Sauerstoffdefizite zu, besonders in Hafenbecken und Nebenarmen der Elbe. Für empfindliche Arten wie den Stint gelten Konzentrationen unter 4 mg/l bereits als kritisch. Wenn solche Bedingungen über Wochen anhalten, können ganze Jahrgänge verloren gehen – ein Muster, das in den letzten Sommern mehrfach beobachtet wurde.
  • Trübes Wasser, leere Mägen
    Die hohe Schwebstoffdichte hat auch indirekte Folgen: Weniger Licht bedeutet weniger Phytoplankton, die Basis des Nahrungsnetzes. Damit fehlen Kleinkrebse und andere Kleintiere, von denen sich Fischlarven ernähren.
    Zudem reizen feine Sedimentpartikel die Kiemen vieler Fische und hemmen ihr Wachstum – wie Laborversuche mit Stintlarven zeigen.
  • Verlust von Flachwasserzonen
    Parallel verschwinden durch Hafenbauten, Deiche und Vertiefungen viele flache Uferbereiche, die als Laich- und Aufwuchsgebiete unersetzlich sind.
    Besonders das Mühlenberger Loch bei Hamburg – einst eines der produktivsten Kinderstuben-Gebiete der Elbe – hat mehr als die Hälfte seiner Fläche verloren: von rund 210.000 m³ im Jahr 2000 auf 113.000 m³ im Jahr 2016.

Die Summe dieser Eingriffe – Sedimentumlagerung, abnehmender Abfluss, Sauerstoffmangel und Habitatverlust – verwandelt die Elbe von einem artenreichen Übergangsraum in ein System unter Dauerstress. Die Folgen zeigen sich nicht nur in sinkenden Beständen, sondern auch in der Umstrukturierung ganzer Lebensgemeinschaften.

Stint in der Elbemündung
Der Stint gilt als Indikatorart für die ökologische Qualität der Elbe. Seit 2010 sind seine Bestände um über 90 % eingebrochen – ein Warnsignal für das gesamte Ökosystem des Elbeästuars.
Nasser Halaweh, CC BY 4.0, via Wikimedia Commons)

Wandel der Lebensgemeinschaften

Um die Veränderungen besser zu verstehen, unterteilten die Forschenden die Arten der Elbmündung in sogenannte Lebenszyklus-Gilden – Gruppen mit ähnlichem Wander- und Fortpflanzungsverhalten. Dadurch lassen sich ökologische Funktionen und Verschiebungen innerhalb der Fischgemeinschaft genau erfassen:

GildeArtenEntwicklung
Anadrome Wanderfische (laichen im Süßwasser, leben im Meer)Stint, Finte, Neunauge– 92 % seit 2010
Katadrome Wanderfische (leben im Süßwasser, laichen im Meer)Aalstarker Rückgang, europaweit bedroht
SüßwasserartenZander, Brasse, Barsch, Rotaugeteils stabil, teils rückläufig
ÄstuarbewohnerGrundeln, Seenadelnstark abnehmend
Marine Ästuar-OpportunistenHering, Wittling, Sprottedeutlich zunehmend

Über die vier Jahrzehnte hat sich die Artenzusammensetzung grundlegend verschoben.
Während anadrome Wanderfische wie Stint, Finte und Flussneunauge um mehr als 90 % zurückgingen, nahmen marine Opportunisten wie Hering, Wittling und Sprotte (Sprattus sprattus) deutlich zu.

Das Elbeästuar, einst ein ausgewogenes Übergangssystem zwischen Süß- und Salzwasser, ähnelt heute in seiner Fischfauna eher den stark gezeitengeprägten Mündungen Großbritanniens als den früheren norddeutschen Verhältnissen. Das bedeutet: Der Einfluss des Meeres nimmt stetig zu, während typische Flussarten an den Rand gedrängt werden.

Diese Verschiebung zeigt, dass das ökologische Gefüge des Ästuars kippt. Arten, die an wechselnde Salzgehalte und trübes Wasser angepasst sind, verdrängen jene, die auf stabile Süßwasserzonen angewiesen waren. Damit verliert die Elbe zunehmend ihre Funktion als Kinderstube und Rückzugsraum für wandernde Süßwasserarten.

Beispielarten im Überblick

ArtEntwicklungBemerkung
Stint +1980–2010, danach −91 %Schlüsselart, reagiert empfindlich auf Sauerstoffmangel
Finte starker Rückgangeinst häufig, heute nur noch vereinzelt im Oberlauf nachgewiesen
Flunder − 80 %Rückgang v. a. im Unterlauf, Indikator für Sedimentbelastung
Kaulbarsch−70 %Wachstumsstörungen bei Jung- und Alttieren durch Trübung
Aal kontinuierlich abnehmendeuropaweit „vom Aussterben bedroht“ – durch Wanderhindernisse und Glasaalfang (Jungfische)
Zander leichte Zunahme im Hafenbereichprofitiert von wärmeren Temperaturen und urbanen Strukturen (Hafenbecken, Kaimauern)
Hering deutlicher Zuwachsmarine Art, dringt mit steigendem Salzgehalt weiter flussaufwärts
Wittlingstark zunehmendGewinner des Strukturwandels, profitiert von höherem Salzgehalt

Hoffnung durch gezielten Schutz

Trotz des besorgniserregenden Trends sehen die Forschenden noch Chancen zur Erholung. Elena Hauten erklärt in der Pressemitteilung: „Die Studie zeigt, dass sich Fischbestände erholen können, wenn sich die Umweltbedingungen verbessern. Noch ist es also nicht zu spät, gezielte Schutzansätze zu entwickeln.“

Um diese Erholung zu fördern, planen das LIB und die Universität Hamburg neue Mesokosmos-Experimente, in denen unter kontrollierten Bedingungen getestet wird, wie Faktoren wie Salzgehalt, Sauerstoffkonzentration und Nahrungsverfügbarkeit zusammenwirken. Die Ergebnisse sollen helfen, gezielte Maßnahmen für die Elbmündung abzuleiten.

Parallel dazu setzen sich die Forschenden für Renaturierungsprojekte ein, etwa zur Wiederherstellung flacher Uferzonen und zum Ersatz verschlickter Aufwuchsgebiete. Solche Lebensräume sind entscheidend für das Überleben von Larven und Jungfischen. Wenn es gelingt, diese Strukturen wiederherzustellen, könnte die Elbe ihre ökologische Funktion als Kinderstube der Nordsee zumindest teilweise zurückgewinnen.

Parallelen zur Ostsee

Der Blick über die Elbmündung hinaus zeigt, dass ähnliche Prozesse auch im offenen Meer ablaufen. In der zentralen Ostsee haben Forschende des GEOMAR Helmholtz-Zentrums Kiel 2025 nachgewiesen, dass der Dorsch (Gadus morhua) infolge jahrzehntelanger Überfischung genetische Veränderungen entwickelt hat.
Die Tiere werden kleiner, erreichen früher die Geschlechtsreife und reagieren damit auf den permanenten Entnahme­druck – eine vom Menschen ausgelöste Evolution im Zeitraffer.

Während in der Elbe ökologische Veränderungen ganze Lebensgemeinschaften verdrängen, zeigt der Ostseedorsch, wie intensiv die menschliche Nutzung selbst in die Erbanlagen mariner Arten eingreift. Was im Ästuar als Verschiebung von Lebensräumen beginnt, setzt sich in der Ostsee auf genetischer Ebene fort. Beide Fälle verdeutlichen, wie stark der Mensch die ökologische und evolutionäre Dynamik aquatischer Systeme beeinflusst.

Eine Flussmündung im ökologischen Umbruch

Die Elbe galt einst als eine der fischreichsten Flussmündungen Europas, mit über 200 Kilogramm Fisch pro Hektar und Jahr. Heute ist davon kaum etwas geblieben. Die Forschenden sehen in der Entwicklung ein deutliches Warnsignal: Wenn sich Sedimente, Sauerstoffmangel und Klimawandel weiter verstärken, könnten die wandernden Süßwasserarten der Elbe in wenigen Jahrzehnten verschwunden sein.

Das Fazit der Studie lautet: Die mittlere Fischdichte im Elbeästuar ist seit 2010 um über 91 Prozent gesunken – ein historischer Tiefstand, der zeigt, wie empfindlich das System auf anhaltende Belastungen reagiert.

Trotz dieser Befunde zeigen frühere Phasen, dass sich die Elbe erholen kann, wenn Wasserqualität und Lebensräume verbessert werden. Schon die Sanierungsmaßnahmen der 1990er-Jahre führten zu einem deutlichen Aufschwung der Fischfauna. Schutzprogramme, die Sauerstoffeinträge, Baggeraktivitäten und Schwebstoffbelastungen begrenzen, könnten auch heute wieder helfen. Rechtzeitiges Handeln kann den Unterschied zwischen Erholung und Kollaps bedeuten.

Quellen

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