Sein Aussterben war voraussehbar
Bereits im Jahr 1841 ahnte der britische Ornithologe und Tiermaler John Gould das traurige Ende des Dünnschnabelnestors voraus. In einer prophetischen Beobachtung schrieb er über den vom Aussterben bedrohten Papagei, der einst auf der Norfolkinsel und der benachbarten Phillip Island lebte:
„Die natürlichen Lebensräume dieses prächtigen Vogels wurden so stark beeinträchtigt, und es wurde ein solcher Vernichtungsfeldzug gegen ihn geführt, dass, wenn es nicht bereits der Fall ist, der Zeitpunkt nicht mehr fern ist, an dem (…) wie beim Dodo seine Haut und Knochen die einzigen Erinnerungen an seine Existenz sein werden.“
The Doomsday Book of Animals. S. 81. 1981. D. Day
Der Dünnschnabelnestor, auch bekannt als Norfolk-Kaka, war ein kräftiger, etwa 38 Zentimeter großer Papagei, der mit seinem markanten, nach unten gebogenen Schnabel sofort ins Auge fiel. Er bewohnte die felsigen Gebiete und Baumkronen der Norfolkinsel sowie des sechs Kilometer südlich gelegenen Phillip Island. Der australische Ornithologe und Papageienexperte Joseph Forshaw vermutet in Vanished and Vanishing Parrots (2017), dass auch die gerade einmal 500 Meter lange und 400 Meter breite Insel Nepean, nur 800 Meter von der Norfolkinsel entfernt, zum Verbreitungsgebiet des Dünnschnabelnestors zählte. Die geografische Nähe der Inseln machte es für den Dünnschnabelnestor vermutlich einfach, sie zu besiedeln, trotz seiner eingeschränkten Flugfähigkeit.
Der Papagei zeichnete sich zudem durch seine kürzeren Flügel und seinen kurzen Schwanz aus, was ihn zu einem schlechten Flieger machte. Er verbrachte viel Zeit am Boden oder in niedrigen Bäumen, und wenn er sich in die Baumkronen begab, nutzte er seinen starken Schnabel, um sich daran festzuhalten und sich geschickt von Ast zu Ast zu hangeln.
Der lange Schnabel, der diesem Papagei seinen Namen einbrachte, war wohl eines seiner auffälligsten Merkmale. Mit ihm konnte er sich nicht nur fortbewegen, sondern auch Nahrung aus der Rinde und den Felsen herausziehen. Seine kräftigen Gliedmaßen ermöglichten es ihm, sich sicher durch das unwegsame Gelände und die Wälder der Inseln zu bewegen.
Wie John Gould 1865 feststellte, gab es bei dieser Art kaum Geschlechtsunterschiede. Männchen und Weibchen ähnelten sich in ihrem Erscheinungsbild, und auch die jugendlichen Vögel sahen den Erwachsenen sehr ähnlich, ihnen fehlten jedoch die markanten gelben und roten Brustmarkierungen, die typisch für ausgewachsene Exemplare waren. Stattdessen war ihre Brust olivbraun gefärbt.
„Es scheint, dass sich die Geschlechter bei den zahlreichen von mir untersuchten Exemplaren kaum in der Farbe unterscheiden; die Jungen hingegen haben nur wenig von den kräftigen gelben und roten Markierungen auf der Brust, dieser Bereich ist olivbraun wie der Rücken.“
Handbook to the Birds of Australia. Volume 2. S. 551. 1865. J. Gould
Der Dünnschnabelnestor gehört zur Gattung der Nestorpapageien (Nestor), die einst vier Arten umfasste. Heute sind nur noch zwei davon erhalten: der Kea (N. notabilis) und der Kaka (N. meridionalis), die beide in Neuseeland heimisch sind. Der Dünnschnabelnestor und der Chatham-Kaka (N. chathamensis), der bereits im 17. Jahrhundert von den Chatham-Inseln verschwand, sind in historischer Zeit ausgestorben.
Goulds prophetische Worte aus dem Jahr 1841 sollten sich bewahrheiten: Der Dünnschnabelnestor verschwand, und nur wenige Überreste in den Museen erinnern heute an seine einstige Existenz. In den Museen der Welt sind weniger als 20 Bälge des Vogels erhalten; Exemplare gibt es unter anderem in Dresden, Prag, Birmingham, Tring, Amsterdam, Leiden, Melbourne, New York und Washington. Darüber hinaus sind fossile Überreste von mindestens neun Individuen erhalten.
Dünnschnabelnestor – Steckbrief
alternative Bezeichnungen | Norfolk-Kaka, Norfolk-Kākā |
wissenschaftliche Namen | Nestor productus, Plyctolophus productus, Centrurus productus, Nestor norfolcensis, Nestor hypopolius, Psittacus hypopolius, Nestor meridionalis productus |
englische Namen | Norfolk kaka, Norfolk Island kaka, Norfolk Island parrot, Wilson’s parrakeet, Long-billed parrot, Long-billed kaka, Long-billed parrakeet |
ursprüngliches Verbreitungsgebiet | Norfolkinsel, Phillip Island und Nepean Island (Pazifischer Ozean, Australien) |
Zeitpunkt des Aussterbens | unklar, möglicherweise 1860er-Jahre |
Ursachen für das Aussterben | Bejagung, Lebensraumverlust, auf Insel eingeschleppte Tiere |
IUCN-Status | ausgestorben |
Vom Aussterben des Dünnschnabelnestors
Da die drei Inseln, auf denen der Norfolk-Kaka vorkam, relativ klein sind, war die Population dieses Papageis schon vor der menschlichen Besiedlung vermutlich nie sehr groß. Der Ornithologe Joseph Forshaw vermutet 2017, dass die begrenzte Fläche von Norfolk Island, Phillip Island und Nepean Island eine größere Population von Anfang an nicht hätte tragen können. Archäologische Funde zeigen, dass die Norfolkinsel bereits vom 12. bis ins 15. Jahrhundert von Polynesiern bewohnt wurde, die dort Dörfer errichteten und die lokale Tierwelt, darunter den Dünnschnabelnestor, als Nahrungsquelle jagten. Warum die Polynesier die Insel letztendlich verließen, bleibt unklar.
Lebensraumverlust durch die europäische Besiedlung
Mit der menschlichen Kolonisation veränderte sich das Erscheinungsbild der Inseln drastisch, da ein großer Teil für Landwirtschaft und Bauvorhaben gerodet wurde. Im Jahr 1788 gründete Großbritannien auf der Norfolkinsel eine Strafkolonie, bedingt durch ihre abgelegene Lage und die natürlichen Ressourcen wie Neuseelandflachs und Nadelhölzer. Nach der Ankunft der Gefangenen wurde eine Siedlung errichtet, und die Häftlinge widmeten sich dem Holzeinschlag und der Flachsverarbeitung. Da sich der Handel und die Produktion auf der Insel jedoch nicht mehr lohnten, wurde die Kolonie 1814 aufgegeben, und die Insel blieb für die nächsten elf Jahre unbewohnt.
Wegen der steigenden Kriminalitätsrate in Großbritannien entschied man sich 1825, die Norfolkinsel erneut als Strafkolonie zu nutzen. James L. Moore beschreibt in Ensign Best’s Bird Observations on Norfolk Island (1985), wie stark sich die Insel während dieser zweiten Kolonialisierungsphase veränderte, was erhebliche Auswirkungen auf die dortige Vogelwelt hatte. Der subtropische Regenwald, der vor der europäischen Besiedlung die Insel bedeckte, wurde großflächig abgeholzt, um Platz für Siedlungen und landwirtschaftliche Flächen zu schaffen. Auch Nepean Island blieb nicht verschont: Die kleine Insel wurde als Steinbruch genutzt, und der gesamte ursprüngliche Wald wurde zur Holzgewinnung gerodet.
Eingeschleppte Tiere als Gefahr für die Vogelwelt
Bis auf eine elfjährige Unterbrechung zwischen 1814 und 1825 diente die Norfolkinsel 66 Jahre lang, bis 1854, als Strafkolonie. Auf der knapp 35 Quadratkilometer großen Insel lebten etwa 2.000 Menschen, von denen 1.800 Sträflinge waren. Einen, wenn auch begrenzten, in die Vogelwelt der Insel bieten die privaten Tagebücher von Abel Dottin William Best, einem Offizier der Britischen Armee, die 1955 entdeckt wurden. In den Jahren 1838 und 1839 verbrachte Best insgesamt 19 Monate auf der Insel. Aus unbekannten Gründen wurde sein Tagebuch über die Norfolkinsel jedoch nur sieben Monate lang geführt, wobei eine längere Krankheit seine Aufzeichnungen auf gerade einmal 20 Wochen reduzierte.
Als Best auf der Norfolkinsel ankam, wurde diese bereits seit 50 Jahren als Strafkolonie genutzt. Die Auswirkungen der absichtlich eingeführten Schweine, Ziegen und Kaninchen auf Phillip Island waren deutlich zu spüren. Best besuchte Phillip Island mehrmals mit Jagdgesellschaften und berichtete, dass er bei einigen Gelegenheiten mit 50 bis 100 Kaninchen zurückkehrte. Zusätzlich erwähnte er, dass auf der Insel Schweine, Ziegen und verwilderte Hühner lebten, allerdings wurde keines dieser Tiere offenbar zur Nahrungsgewinnung getötet.
Auf der Norfolkinsel selbst hatten sich verwilderte Katzen etabliert, die Best und seine Zeitgenossen bereits als ernsthaftes Problem für die Vogelwelt wahrnahmen. Die Katzen dezimierten die Populationen einheimischer Vögel, und Best jagte sie mit seinen Hunden. Innerhalb von 27 Tagen, im September und Oktober 1838, erlegte er sieben dieser Tiere:
„Ihr müsst wissen, dass ich so unerbittlich gegen sie [die Katzen] bin, weil sie Wachteln zerstören und wir beabsichtigen, sie erneut einzuführen; es wurde einmal versucht, aber die Katzen haben sie schnell ausgerottet.“
Ensign Best’s Bird Observations on Norfolk Island. S. 320. Notornis 32 (4). 1985. J. L. Moore
Neben den eingeführten Raubtieren wie Katzen litten die einheimischen Vogelarten auch unter eingeschleppten Konkurrenten wie Amseln (Turdus merula) und dem Pennantsittich (Platycercus elegans). Diese Vögel konkurrierten mit den einheimischen Arten um begrenzte Ressourcen wie Nahrung und Nistplätze. Besonders der Pennantsittich, ein Altweltpapagei, könnte die gleichen Nahrungsquellen und Brutplätze beansprucht haben, die auch vom Dünnschnabelnestor genutzt wurden.
Dünnschnabelnestor: Fleischquelle und Haustier
Der Dünnschnabelnestor wurde von Siedlern und Strafgefangenen wegen seines Fleisches gejagt, da er eine leichte Beute war – die Vögel zeigten keine Scheu vor Menschen. Besonders nach dem Schiffsbruch der Sirius der britischen Marine im März 1790 war die hungernde Besatzung gezwungen, die lokalen Vögel zur Nahrungsbeschaffung zu jagen. Ein Seemann, Jacob Nagle, schrieb 1790 in seinem Tagebuch:
„Mit Ausnahme von Wachteln, ein paar Papageien, Sittichen (…) und Wildtauben von gleicher Farbe wie die unsrigen zahmen, gab es nur wenige Landvögel auf der Insel, doch wir haben ihre Zahl gewaltig verringert, bevor wir die Insel verließen.“
The Nagle Journal: A Diary of the Life of Jacob Nagle, Sailor, From the Year 1775–1841. 1988. J. Nagle & J. C. Dann
Die Seeleute blieben fast ein Jahr auf der Insel, bis sie im Februar 1791 gerettet und nach England gebracht wurden.
James Cowan Greenway, ein US-amerikanischer Ornithologe, führt in Extinct and Vanishing Birds of the World (1967) den Menschen als alleinige Ursache für das Aussterben des Norfolk-Kakas an, da die Art zu Nahrungszwecken gejagt wurde. Auch Dieter Luther vertritt in Die ausgestorbenen Vögel der Welt (1986) die Ansicht, dass der Vogel primär als Fleischquelle ausgerottet wurde. Neben dem Dünnschnabelnestor wurden auch andere Vogelarten wie etwa die Norfolk-Erdtaube und eine Unterart der Maori-Fruchttaube (Hemiphaga novaeseelandiae spadicea) bis zur vollständigen Ausrottung gejagt.
Wenn die Norfolk-Kakas nicht als Nahrungsquelle genutzt wurden, fing man sie ein und hielt sie als Haustiere. Aufgrund ihrer natürlichen Zahmheit ließen sie sich leicht zähmen und gediehen gut in Gefangenschaft. John Gould berichtet von einem Dünnschnabelnestor, der um 1838 von einer Familie in Sydney gehalten wurde: „Dieser Vogel war nicht in einem Käfig eingesperrt, sondern durfte sich im Haus frei bewegen.“
John Goulds Erwähnung eines „Vernichtungsfeldzugs“ gegen den Dünnschnabelnestor könnte darauf hindeuten, dass die Jagd auf diese Art systematisch und intensiv war. Es ist zudem wahrscheinlich, dass der Vogel nicht nur wegen seines Fleisches gejagt wurde, sondern auch als landwirtschaftlicher Schädling galt. Wie viele Papageienarten könnte der Dünnschnabelnestor Früchte, Samen und Nektar gefressen haben, wodurch er für die landwirtschaftlichen Interessen der Siedler zur Bedrohung wurde. Sowohl Siedler als auch Strafgefangene, die auf den Anbau von Lebensmitteln angewiesen waren, hätten den Vogel möglicherweise verfolgt, um Ernteverluste zu vermeiden.
Julian P. Hume erwähnt in Extinct Birds (2017), dass auch die Brutpopulation des Bänderhabichts (Tachyspiza fasciata) im späten 18. Jahrhundert auf der Norfolkinsel und vor den 1850er-Jahren auf Phillip Island ausgerottet wurde. Auch der Bänderhabicht wurde wahrscheinlich als Bedrohung für Nutztiere oder andere wertvolle Ressourcen betrachtet und deshalb gezielt gejagt.
Die Internationale Union zur Bewahrung der Natur (IUCN) geht davon aus, dass eine Kombination aus Lebensraumzerstörung und Bejagung zum Aussterben des Dünnschnabelnestors führte. Die Umwandlung der Inseln für Landwirtschaft und der gezielte Jagddruck ließen der Art keinen Raum zum Überleben.
Wann ist der Dünnschnabelnestor ausgestorben?
Als der britische Entdecker James Cook am 10. Oktober 1774 während seiner zweiten Südseereise die Norfolkinsel betrat, war diese unbewohnt. Zu diesem Zeitpunkt muss es dort jedoch noch Norfolk-Kakas gegeben haben, denn der deutsche Naturforscher Johann Reinhold Forster und sein Sohn Georg, die Cook auf seiner Reise begleiteten, waren die ersten, die den Vogel erwähnten.
Während der zweiten Phase als Strafkolonie zwischen 1825 und 1854 verschwand der Dünnschnabelnestor höchstwahrscheinlich von der Norfolkinsel. In seinem Tagebuch für das Jahr 1838 erwähnte Abel Best elf Vogelarten, jedoch nicht den Dünnschnabelnestor. Das Fehlen einer Erwähnung dieses auffälligen Papageienvogels lässt vermuten, dass die Art zu diesem Zeitpunkt bereits auf der Norfolkinsel ausgestorben war. Best, ein naturinteressierter Sammler, der Seeschwalben und Sittiche schoss und präparierte und Käfer sammelte, hätte diesen auffälligen Papagei zweifellos erwähnt, wenn er ihm begegnet wäre. Das Nichterwähnung in seinen Aufzeichnungen deutet darauf hin, dass der Dünnschnabelnestor zumindest auf der Hauptinsel bereits vor 1838 verschwunden war. Dasselbe gilt vermutlich auch für das benachbarte Nepean Island.
John Gould notierte in den 1850er-Jahren in seinem Handbook to the Birds of Australia, dass der Dünnschnabelnestor auf Phillip Island, seinem letzten Zufluchtsort, etwas länger überlebt hatte:
„Es tut mir leid, mitteilen zu müssen, dass die natürlichen Lebensräume dieses schönen Vogels so stark gestört wurden und ein derartiger Vernichtungsfeldzug gegen ihn geführt wurde, dass er nun vollständig ausgerottet ist und nur noch wenige ausgestopfte Exemplare als Erinnerungen an seine Existenz übrig sind. Bis vor kurzem lebte er noch auf Philip Island (einer kleinen Insel vor Norfolk Island), aber in diesem kleinen Gebiet ist er nun nicht mehr zu finden.“
Handbook to the Birds of Australia. Volume 2. S. 550. 1865. J. Gould
Häufig wird in der Literatur erwähnt, dass der letzte Dünnschnabelnestor nach 1851 als Käfigvogel in London verstarb. James Greenway schrieb 1967, dass es sehr wahrscheinlich sei, dass die Art vor 1851 in ihrer ursprünglichen Heimat, der Norfolkinsel, ausgerottet wurde. Es gibt jedoch keine klaren Aufzeichnungen über Sichtungen nach diesem Zeitpunkt, außer der Annahme, dass der Vogel zuletzt auf Phillip Island überlebte. Laut einer Notiz von J. H. Gurney wurde der letzte Dünnschnabelnestor auf Phillip Island vor 1864 erschossen. Wann genau dies geschah, ist nicht dokumentiert.
Im Naturhistorischen Museum in Leiden, Niederlande, befinden sich zwei Exemplare des Norfolk-Kakas, deren Ursprung Phillip Island ist. Interessanterweise ist das männliche Museumsexemplar auf das Jahr 1863 datiert. Sollte der Vogel tatsächlich 1863 gefangen und nicht etwa aus einer anderen Sammlung gekauft worden sein, würde dies bedeuten, dass der Norfolk-Kaka auf der Insel noch bis in die 1860er-Jahre hinein überlebt hat. Der von der IUCN geschätzte Aussterbezeitpunkt ist Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts.
Entdeckungsgeschichte und Taxonomie
Die ersten europäischen Naturforscher, die den Dünnschnabelnestor beobachteten, waren der deutsche Naturforscher Johann Reinhold Forster und sein Sohn Georg auf der zweiten Südseereise des britischen Seefahrers James Cook zwischen 1772 und 1775. Die Insel, die Cook als Norfolk bezeichnete, entdeckten sie am 10. Oktober 1774. Die Beschreibung des bis dahin unbekannten Papageis wurde allerdings erst 1844 veröffentlicht.
Im Jahr 1790 malte der schottische Gelehrte und Seefahrer John Hunter, der nach einem Schiffbruch auf der Norfolkinsel strandete, ein Aquarell des Dünnschnabelnestors. Der Vogel sitzt auf einem Känguruapfel (Solanum aviculare), einer in Australien und Neuseeland heimischen Pflanze. Diese Darstellung ist die einzige bekannte Abbildung eines lebenden Exemplars in seinem natürlichen Lebensraum.
John Gould beschrieb den Dünnschnabelnestor 1836 formell wissenschaftlich in Characters of Some New Birds in the Society’s Collection anhand eines Exemplars der Zoological Society of London. Er benannte den Vogel zunächst als Plyctolophus productus und ordnete ihn der Familie der Neuseelandpapageien (Strigopidae) zu. Das Artepitheton productus, lateinisch für „verlängert“, bezieht sich auf den charakteristisch langen Schnabel des Papageis. Die heutige Systematik ordnet den Dünnschnabelnestor der Gattung Nestor zu.
Obwohl dies heute klar erscheint, gab es in der Vergangenheit Unklarheiten über den innerartlichen Status des Norfolk-Kakas. Da Dünnschnabelnestoren offenbar häufig Schnabeldeformationen aufwiesen und auf unterschiedlichen Inseln lebten, gingen einige Naturforscher davon aus, dass es mehrere Arten gab. So beschrieb der österreichische Ornithologe August von Pelzeln 1860 in Zur Ornithologie der Insel Norfolk einen auf der Norfolkinsel endemischen Vogel als Nestor norfolcensis, basierend auf einem Exemplar mit abnormalem Schnabel. Dies stand im Gegensatz zu Nestor productus, den Gould 1836 auf Phillip Island beschrieben hatte.
Einige Zoologen, darunter Walter Rothschild, erkannten Nestor norfolcensis als eigenständige Art an. Rothschild führt in seinem Werk Extinct Birds (1907) beide Arten getrennt auf und spekulierte, dass die Vögel von der Norfolkinsel möglicherweise von der Lord-Howe-Insel stammten, da sie sich deutlich von den Phillip-Island-Vögeln unterschieden. Laut Rothschild lagen die Unterschiede jedoch weniger in der Schnabelform, sondern vielmehr in der Schwanzform: Die Norfolkinsel-Vögel hätten einen keilförmigeren Schwanz ohne Querstreifen. Für das Vorkommen der Art auf der Lord-Howe-Insel gibt es keine Beweise.
Der englische Ornithologe James Edmund Harting stellte 1897 einen direkten Vergleich zweier ausgestellter Exemplare von Norfolk und Phillip Island an. Seine Untersuchung zeigte, dass es sich um dieselbe Art handelte. Er schrieb:
„Das Ergebnis eines Vergleichs der beiden ausgestellten Bälge sowie der Maße der Flügel, Tarsen und Füße machte es fraglich, ob die beiden Formen tatsächlich verschiedene Arten waren, da die geringfügigen Unterschiede in der Färbung vernünftigerweise dem Alter oder dem Geschlecht zugeschrieben werden konnten.“
Societies and Academics. S. 239. Nature 56 (1445). 1897.
In Extinct and Vanishing Birds of the World (1958) stufte James Greenway norfolcensis in den Status eines Synonyms zu productus zurück. Allerdings schloss der US-amerikanische Ornithologe ein Vorkommen des Norfolk-Kakas auf der Lord-Howe-Insel nicht aus.
Julian P. Hume merkt in Extinct Birds (2017) an, dass derartig „wilde Annahmen“ bezüglich zweier unterschiedlicher Arten sowie dem Vorkommen auf der Lord-How-Insel inzwischen der Vergangenheit angehören. Heute wissen wir, dass das Gefieder des Dünnschnabelnestors recht vielfältig war, sich jedoch hauptsächlich zwischen grünlich-aschfarben und braun, mit orangenen Tönen bewegte, wobei ihr Schwanz braun war. Auch die Schnabeldeformationen scheinen bei diesen Papageien offenbar nicht ungewöhnlich gewesen zu sein. Hume befürwortet daher, dass N. norfolcensis mit N. productus synonymisiert wurde.
Norfolk-Kaka: Evolution und Verwandtschaft
Der Dünnschnabelnestor gehört zur Familie der Kakapos (Strigopidae) und zur Unterfamilie Nestorinae. Er ist Teil der einzigen Gattung Nestor, die auch andere Papageien wie den Kaka und den Kea umfasst. Die Familie der Strigopidae wird in zwei Gattungen unterteilt: Nestor und Strigops, wobei letztere nur den Kakapo oder Eulenpapagei (Strigops habroptilus) beinhaltet. In einer alternativen taxonomischen Einordnung wird die Gattung Nestor in eine eigene Familie, Nestoridae, gestellt, die gemeinsam mit den Kakapos die Überfamilie Strigopoidea bildet. Diese Gruppe ist eine der ältesten Papageienlinien und steht evolutionär allen anderen Papageienarten gegenüber.
Die 2014 veröffentlichte Studie The Evolution of the Nestor Parrots untersuchte die Geschichte der Nestorpapageien. Dabei zeigten molekulare Analysen, dass sich die Linien von Kakapo und Nestor vor 23 bis 29 Millionen Jahren in Neuseeland trennten. Weitere genetische Untersuchungen datieren die Abspaltung des Kea (N. notabilis) vom neuseeländischen Kaka (N. meridionalis) auf einen Zeitraum vor 2,3 bis 4,4 Millionen Jahren. Der Kaka entwickelte sich im neuseeländischen Archipel zu vier verschiedenen Taxa: zwei Unterarten auf der Nord- und Südinsel sowie zwei neuen Arten – dem Dünnschnabelnestor und dem Chatham-Kaka, der ebenfalls ausgestorben ist.
Der neuseeländische Kaka gilt als der nächste lebende Verwandte des Dünnschnabelnestors. Einige Forscher, darunter Errol Fuller in Extinct Birds (2000), vermuten sogar, dass der Dünnschnabelnestor als eine Unterart des Kaka betrachtet werden könnte, unter dem Namen Nestor meridionalis productus.
Verhalten und Ökologie des Dünnschnabelnestors
Während Norfolk Island als Strafkolonie diente, hatten Naturforscher nur selten die Gelegenheit, die Insel zu besuchen. Eine Ausnahme war der englische Botaniker Allan Cunningham, der im Mai 1830 kurzzeitig dort forschte. Über das Verhalten und die Ökologie des Norfolk-Kakas gibt es daher nur wenige Informationen, die hauptsächlich aus den Aufzeichnungen von John Gould stammen. Gould berichtet, dass er um 1838 in Sydney auf einen lebenden Dünnschnabelnestor von Phillip Island traf, der von einem gewissen Major Anderson als Haustier gehalten wurde.
Da der nächste Verwandte des Dünnschnabelnestors, der neuseeländische Kaka, ein Waldbewohner ist, wird angenommen, dass auch der Norfolk-Kaka in Wäldern lebte. Kakas leben meist allein oder in kleinen Gruppen, und es ist wahrscheinlich, dass der Dünnschnabelnestor eine ähnliche soziale Struktur aufwies. Zeitgenössische Berichte beschreiben den Dünnschnabelnestor als einen geschickten Läufer und Kletterer, der sehr neugierig und wenig scheu war:
„Auf den Böden bewegte er sich nicht mit dem unbeholfenen, watschelnden Gang eines Papageis, sondern sprang in einer Abfolge von Sätzen, genau wie Krähenvögel. Frau Anderson, der ich die wenigen Informationen über diesen Vogel verdanke, erzählte mir, dass er auf den Felsen und in den höchsten Bäumen von Philip Island zu finden sei, so zahm, dass er leicht mit einer Schlinge lebend gefangen werden könne.“
Handbook to the Birds of Australia. Volume 2. S. 551. 1865. J. Gould
Diese Inselzahmheit könnte der Art zum Verhängnis geworden sein, da sie dadurch für Jäger und zur Haustierhaltung besonders leicht zu fangen war.
Gould berichtet weiter, dass sich der Dünnschnabelnestor vom Nektar verschiedener Pflanzen ernährte. Dabei half ihm eine spezialisierte Zunge mit einem schmalen, hornartigen Fortsatz an der Unterseite. Gould verglich die Zunge mit einem menschlichen Finger, bei dem der Nagel auf der Unterseite sitzt:
„[Er ernähre] sich von den Blüten des Weißholz-Baumes oder des Weißen Hibiskus, indem er den Nektar der Blüten sauge. Diese letzte Information veranlasste mich, die Zunge des Vogels zu untersuchen, die eine sehr eigenartige Struktur aufwies: Sie war nicht wie bei den echten nektarfressenden Papageien (…) mit einer pinselartigen Spitze versehen, sondern hatte an der Unterseite eine schmale, hornartige Mulde, die zusammen mit der Zungenspitze einem Finger mit dem Nagel darunter anstatt darüber ähnelte. Diese Besonderheit der Zungenstruktur deutet sicherlich auf eine entsprechende Besonderheit in der Nahrung hin, von der sich der Vogel ernährt.“
Handbook to the Birds of Australia. Volume 2. S. 551. 1865. J. Gould
Forshaw merkt in Vanished and Vanishing Parrots (2017) an, dass der kräftige Schnabel des Dünnschnabelnestors darauf hinweist, dass er sich nicht nur von Nektar, sondern auch von Insektenlarven, Früchten und Samen aus den Wäldern ernährte. Gould beobachtete den Vogel später in Gefangenschaft in London und stellte fest:
„Ich kann erwähnen, dass ich einmal ein lebendes Exemplar des Vogels in England gesehen habe. Es befand sich im Besitz von Sir J. P. Millbank, Bart., der mir mitteilte, dass der Vogel eine starke Vorliebe für Blätter von Kopfsalat und andere weiche Gemüse zeigte und auch sehr gern den Saft von Früchten, Sahne und Butter mochte.“
Handbook to the Birds of Australia. Volume 2. S. 551. 1865. J. Gould
Der Dünnschnabelnestor gab ein heiseres, bellendes Geräusch von sich, das an das Bellen eines Hundes erinnerte. Über das Brutverhalten der Art ist nur wenig bekannt. Gould erfuhr von Frau Anderson, dass der Vogel in Baumhöhlen nistete und vier Eier legte, jedoch konnte er diese Informationen nicht verifizieren
Auf dem Weg zur Flugunfähigkeit
Der britische Ornithologe John Henry Gurney notierte im April 1864 einen interessante Beobachtung zum Dünnschnabelnestor, der darauf hinweist, dass diese Vogelart möglicherweise dabei war, ihre Flugfähigkeit zu verlieren:
„Ich habe den Mann getroffen, der Nestor productus von Philip Island ausgerottet hat, da er den letzten Vogel dieser Art auf der Insel erschossen hat; er informierte mich, dass sie ihre Flügel selten benutzten, außer wenn sie stark bedrängt wurden: Ihre Fortbewegung erfolgte durch den Oberschnabel; und wann immer er auf die Insel ging, um zu schießen, fand er sie immer am Boden, außer einem, der auf einem der unteren Äste der Araucaria excelsa Wache hielt. Sobald eine Person landete, rannten sie zu diesen Bäumen und zogen sich mit dem Schnabel hoch, und natürlich blieben sie dort, bis sie erschossen wurden oder der Eindringling die Insel verließ.“
Note on Nestor productus, the Extinct Parrot of Philip Island. Zoologist 12 (4298). 1864. J. H. Gurney
Der Dünnschnabelnestor, der relativ kurze Flügel besaß, war ein schlechter Flieger, der viel Zeit am Boden verbrachte. Bei Gefahr floh er in die Bäume, wobei er seinen kräftigen Schnabel benutzte, um sich an den Ästen hochzuziehen. Es scheint, als wäre es ihm schwergefallen, längere Strecken in der Luft zurückzulegen. Diese Verhaltensmuster deuten darauf hin, dass er, ähnlich wie andere inselbewohnende Vogelarten, möglicherweise auf dem Weg war, seine Flugfähigkeit einzubüßen.
Flugunfähigkeit entwickelt sich oft bei Vögeln auf abgelegenen Inseln, wo es wenig oder keine Raubtiere gibt und die Notwendigkeit, zu fliegen, geringer ist. Beispiele dafür sind der neuseeländische Kakapo oder der Dodo von Mauritius. In solchen isolierten Lebensräumen verkümmern im Laufe der Evolution oft Flügel und Brustmuskulatur, da sie nicht mehr benötigt werden.
Obwohl der Dünnschnabelnestor noch fliegen konnte, deutet Gurneys Bericht darauf hin, dass sich die Art zunehmend auf das Laufen am Boden und das Klettern mit ihrem Schnabel stützte. Diese Entwicklung könnte eine Anpassung an das insulare Leben gewesen sein, wo dichte Vegetation und das Fehlen natürlicher Raubtiere diese Verhaltensänderung begünstigten. Es ist evolutionär plausibel, dass der Dünnschnabelnestor seine Flugfähigkeit im Laufe der Zeit vollständig verloren hätte, wenn nicht die Einführung von Raubtieren durch den Menschen und die intensive Bejagung zu seinem vorzeitigen Aussterben geführt hätten.
Der Ornithologe Joseph Forshaw vermutet jedoch, dass der Dünnschnabelnestor trotz seiner eingeschränkten Flugfähigkeit in der Lage war, sich zwischen den Inseln Norfolk, Phillip und Nepean zu bewegen. Dies könnte bedeuten, dass der Vogel kurze Flüge zwischen den Inseln unternahm oder sich unter günstigen Windverhältnissen fortbewegte. Möglicherweise nutzte er auch alternative Strategien, um diese Distanzen zu überwinden, wie zum Beispiel das langsame Überqueren der Inseln über längere Zeiträume hinweg.
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