Wenn vom Artensterben die Rede ist, denken viele an bedrohte Tiere – Pflanzen geraten dabei oft in den Hintergrund. Dabei bilden sie das Rückgrat unserer Ökosysteme: Sie schaffen Lebensräume, produzieren Sauerstoff, binden Kohlenstoffdioxid (CO₂) und ernähren die Welt – Mensch wie Tier.
Eine aktuelle globale Studie, veröffentlicht im Fachjournal Nature, zeigt nun, wie stark auch natürliche Pflanzengesellschaften unter einem oft übersehenen Artenverlust leiden. Die Forschenden analysierten erstmals im großen Maßstab, wie viele Pflanzenarten theoretisch vorkommen könnten – aber tatsächlich fehlen. Dieses „Fehlen trotz Eignung“ fassen sie unter dem Begriff Dark Diversity zusammen.
Was ist Dark Diversity?

(© Ghislain118 http://www.fleurs-des-montagnes.net, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons)
Dark Diversity bezeichnet jene Arten, die an einem bestimmten Standort ökologisch vorkommen könnten, dort aber fehlen – obwohl die Umweltbedingungen grundsätzlich passen. Diese Arten sind regional vorhanden, können sich aber lokal nicht ansiedeln, etwa weil:
- Barrieren wie Straßen die Ausbreitung verhindern,
- Bestäuber oder Samenverbreiter wie Wildbienen, Schmetterlinge, Ameisen oder Vögel fehlen,
- Nährstoffeinträge (etwa durch Düngemittel oder Stickstoff aus der Luft) schnell wachsende Arten begünstigen und empfindliche Spezialisten verdrängen,
- Störungen wie Holzeinschlag, Trittschäden oder Brände sensible Arten dauerhaft fernhalten.
Das Konzept der Dark Diversity erlaubt, auch den „unsichtbaren Teil“ des Artenverlusts systematisch zu analysieren – und erweitert damit die Werkzeuge der Biodiversitätsforschung. Für den Naturschutz ist dieser Perspektivwechsel wichtig: Es zählt nicht nur, was da ist, sondern auch, was fehlt – und warum.
Unsichtbarer Verlust: Drei von vier Arten fehlen oft
In der bislang größten weltweiten Erhebung dieser Art untersuchten über 200 Wissenschaftler knapp 5.500 Standorte weltweit in 119 Regionen weltweit, zum Teil auch mit deutscher Beteiligung. Dabei stellten sie die lokal beobachteten Arten der Anzahl gegenüber, die unter natürlichen Bedingungen dort vorkommen könnten.
Das sind die Ergebnisse:
- In weitgehend ungestörten Regionen lag die sogenannte Community Completeness – also der Anteil der Arten, die tatsächlich vorhanden sind, gemessen an der Zahl der Arten, die dort vorkommen könnten – im Schnitt bei 35 %.
- In stark vom Menschen geprägten Gebieten sank dieser Wert auf unter 20 %.
- Der globale Median lag bei nur 25 %.
Kurz gesagt: Drei von vier Pflanzenarten fehlen – obwohl sie dort wachsen könnten.
Auch in Deutschland zeigt sich das Muster des versteckten Artenverlusts. In einem Birken-Eichen-Mischwald in der Lüneburger Heide, der außerhalb der offiziellen Nature-Studie untersucht wurde, ermittelten Forschende eine Dark Diversity von rund 40 Pflanzenarten pro Fläche – bei einem Human-Footprint-Index von knapp 15, so ein Bericht im Stern. Die Ergebnisse zeigen, dass selbst scheinbar naturnahe Landschaften stark vom Menschen beeinflusst sein können.
Ursachen für das Fehlen geeigneter Arten – Was Pflanzen an ihrer Rückkehr hindert
Die Studie zeigt klar: Je stärker ein Gebiet durch menschliche Aktivitäten beeinflusst ist, desto größer ist die Zahl der fehlenden Arten. Der sogenannte Human-Footprint-Index (HFI) macht diesen Einfluss messbar. Er umfasst unter anderem Bevölkerungsdichte, Infrastruktur (etwa Straßen, Bahnlinien, Stromtrassen), Landnutzung und Lichtverschmutzung. Je höher der Indexwert an einem Standort, desto mehr Pflanzenarten fehlen dort – obwohl sie ökologisch eigentlich vorkommen könnten.
Zum Vergleich:
- Wald in unbesiedelter Gebirgsregion: HFI = 1–3
- Intensive Agrarlandschaft oder Siedlungsrand: HFI = 10–15
- Großstadt oder Industriezone: HFI = 18–20

(© Stefan.lefnaer, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons)
Besonders folgenreich für die Pflanzenvielfalt sind:
- Landschaftszerschneidung durch Straßen und Bebauung
- Luftverschmutzung und Eutrophierung, die konkurrenzstarke Arten begünstigen
- Verlust von Tierarten, die für Bestäubung oder Samenverbreitung wichtig sind
- Direkte Störungen wie Holzeinschlag, Brände, Trittschäden oder Vermüllung beeinträchtigen besonders empfindliche Arten und verhindern ihre Rückkehr
Oft liegt das Problem nicht nur im Verlust geeigneter Lebensräume, sondern auch in unterbrochenen Ausbreitungswegen: Selbst wenn sich Bedingungen lokal verbessern, können viele Pflanzenarten den Ort nicht mehr aus eigener Kraft erreichen. Häufig verhindern menschengemachte Barrieren wie Straßen, Siedlungen oder intensiv genutzte Agrarflächen ihre Ausbreitung. In anderen Fällen fehlen ökologische Voraussetzungen, etwa Tiere, die Samen verbreiten, oder geeignete Zwischenlebensräume. Umso wichtiger ist es, geeignete Flächen gezielt zu identifizieren und potenziell vorkommende Arten aktiv wieder anzusiedeln – und gleichzeitig räumliche und funktionale Barrieren in der Landschaft abzubauen.
Gleichzeitig zeigte sich: In Regionen, in denen mindestens 30 Prozent der Fläche ungestört bleiben, sind die negativen Effekte deutlich geringer. Das stützt das internationale Ziel der UN-Biodiversitätskonferenz, mindestens 30 Prozent der Land- und Meeresfläche bis 2030 zu schützen.
Parallelen zum Artenrückgang bei Tieren
Die Erkenntnisse zur Dark Diversity bei Pflanzen ergänzen die Ergebnisse einer Studie zum Einfluss des Menschen auf Tierarten. Auch dort zeigen sich deutliche Verluste – selbst in scheinbar unberührten Landschaften. Hauptursachen wie Lebensraumzerstörung, Verschmutzung, Fragmentierung und Klimawandel betreffen beide Reiche gleichermaßen. Pflanzen und Tiere verschwinden nicht nur durch direkte Zerstörung – oft reicht es schon, dass sie sich nicht mehr ausbreiten, fortpflanzen oder zurückkehren können. Der Schutz von Biodiversität muss daher beide Perspektiven einbeziehen: die sichtbaren und die unsichtbaren Verluste.
Neue Chancen für den Naturschutz

(© Agnieszka Kwiecień, Nova, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons)
Das Konzept der Dark Diversity eröffnet dem Naturschutz neue Wege. Statt nur vorhandene Arten zu zählen, lässt sich nun gezielt analysieren, welche Arten fehlen – und wo ihr Comeback möglich ist. Das hilft,
- Flächen mit hohem Wiederansiedlungspotenzial zu identifizieren,
- regionale Defizite in der Biodiversität sichtbar zu machen,
- und Maßnahmen zu priorisieren, die konkrete Erfolge bringen können.
Beispielhaft zeigen sich solche Defizite auch in vielen mitteleuropäischen Lebensräumen. In feuchten Wiesen und lichten Laubwäldern sind in einigen Regionen Arten wie die Schachblume (Fritillaria meleagris) oder die Schwarze Platterbse (Lathyrus niger) deutlich zurückgegangen. In Trocken- und Magerrasen fehlen heute häufig gefährdete Arten wie der Große Eberwurz (Carlina acaulis), der Deutsche Fransenenzian (Gentianella germanica), der Pferde-Sesel (Seseli hippomarathrum) oder der Besen-Beifuß (Artemisia scoparia) – obwohl geeignete Standorte noch existieren. Auch aus ehemals artenreichen Ackerrändern sind typische Wildpflanzen wie das Sommer-Adonisröschen (Adonis aestivalis) und die Kornrade (Agrostemma githago) fast vollständig verschwunden – durch Saatgutreinigung, Herbizideinsatz und Strukturverlust. Vielen dieser Arten fehlt heute der Anschluss an benachbarte Populationen. Sie könnten aber zurückkehren – wenn wir ihnen helfen.
Wie sich Pflanzenvielfalt zurückholen lässt

(© Mokkie, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons)
Die Studie zeigt: Viele Arten könnten zurückkehren – wenn wir ihnen die nötigen Bedingungen wieder ermöglichen. Dark Diversity eröffnet hier ein neues Werkzeug für den Naturschutz. Daraus ergeben sich konkrete Ansatzpunkte für Politik, Flächennutzung und praktischen Naturschutz:
- Biotopverbund stärken: Rückzugsorte und Populationen müssen besser vernetzt werden – durch Grünbrücken, Hecken, Blühstreifen oder Entsiegelung. Besonders in Agrarlandschaften und urbanen Räumen wichtig.
- Potenzialflächen erkennen & nutzen: Schutzmaßnahmen nicht nur dort, wo noch Arten vorkommen, sondern auch dort, wo viele Arten fehlen, aber potenziell zurückkehren könnten.
- Störungen reduzieren: Lichtverschmutzung, Stickstoffeintrag, Bodenverdichtung, Lärm und invasive Arten verhindern oft die Rückkehr sensibler Arten – hier ist gezielte Begrenzung nötig.
- Wissen über Dark Diversity einbauen: Bei Umweltverträglichkeitsprüfungen, Förderprogrammen und Schutzgebietsausweisungen sollte die „fehlende Artenvielfalt“ systematisch berücksichtigt werden.
- 30 Prozent Schutzflächen realisieren – und ökologisch sinnvoll gestalten: Nicht nur die Fläche zählt, sondern auch die Qualität, Erreichbarkeit und Einbindung in die Landschaft.
Die aktuelle Studie macht deutlich: Viele Pflanzenarten sind nicht verloren – sie sind nur verdrängt. Noch haben wir die Chance, sie zurückzuholen. Dazu braucht es gezielten Pflanzenschutz, großflächig vernetzte Lebensräume und ein besseres Verständnis der ökologischen Zusammenhänge. Dark Diversity gibt dafür ein wichtiges Werkzeug an die Hand – und eröffnet neue Wege, unsere Natur nicht nur zu bewahren, sondern wieder zu vervollständigen.
Quellen
- Pärtel, M., Tamme, R., Carmona, C.P. et al. (2025): Global impoverishment of natural vegetation revealed by dark diversity. Nature. https://doi.org/10.1038/s41586-025-08814-5
- BfN: Rote Liste Farn- und Blütenpflanzen (Tracheophyta)
- stern.de (2025): Artenschutz: Was „Dark Diversity“ über den Einfluss des Menschen verrät.
Veröffentlicht am 4. April 2025.
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