Die fortschreitende Abnahme der biologischen Vielfalt ist bekannt, doch das Wissen darüber, wie groß der Verlust tatsächlich ist, variiert je nach Tiergruppe. Besonders schlecht erfasst ist das Ausmaß des Artensterbens bei Australiens Wirbellosen – also Tieren ohne Wirbelsäule, wie Insekten, Spinnen oder Krebse. Dabei machen sie immerhin 95 Prozent der gesamten Tierwelt Australiens aus. Von den rund 300.000 wirbellosen Arten des Kontinents sind zwei Drittel wissenschaftlich noch nicht beschrieben.
Um ein klareres Bild zu bekommen, hat ein Team um den australischen Ökologen John Woinarski in einer neuen Studie untersucht, wie viele landlebende Wirbellosenarten seit der europäischen Besiedlung Australiens ausgestorben sind. Die Ergebnisse, veröffentlicht in Cambridge Prisms: Extinction, zeigen, dass über 9.000 Arten von Wirbellosen sind seit 1788 verschwunden sind. Damit übersteigt diese Zahl die offiziell gemeldeten Aussterben aller australischen Pflanzen und Tiere – die bei „nur“ 100 liegen – um ein Vielfaches.
Von den offiziell erfassten 100 Aussterben entfallen gerade einmal zehn auf Wirbellose. Allerdings wird nur eine einzige Art, der Lake-Pedder-Regenwurm, von der australischen Regierung offiziell als ausgestorben anerkannt. Dieses Ungleichgewicht zeigt, wie stark wirbellose Tiere im Naturschutz oft übersehen werden – trotz ihrer entscheidenden Rolle in den Ökosystemen.
Wirbellose – die vernachlässigten Grundpfeiler des Ökosystems
Nicht viele Menschen interessieren sich für Wirbellose und ihr Aussterben verläuft oft unbemerkt – und doch kommt ihnen eine immense Bedeutung zu. Sie sind die Grundbausteine fast aller ökologischen Systeme. Ihr Verlust destabilisiert diese und hat weitreichende Folgen: saubere Luft und Wasser, funktionierende Nährstoffkreisläufe und die Bestäubung vieler Pflanzen hängen von ihnen ab.
Trotz ihrer Bedeutung richtet sich die Aufmerksamkeit des Naturschutzes in Australien (und nicht nur dort) bislang vor allem auf Wirbeltiere. Gut dokumentiert sind das Aussterben ikonischer Säugetiere wie des Beutelwolfs oder des Nacktbrustkängurus sowie von Vögeln wie dem Huia oder dem Südinsel-Riesenmoa. Über das Verschwinden von Wirbellosen gibt es jedoch kaum Daten. Ein Beispiel ist die Weihnachtsinsel, wo mindestens 49 endemische Wirbellosenarten ausstarben – darunter der Floh Xenopsylla nesiotes und die Zecke Ixodes nitens, die mit ihrem Wirt, der ausgerotteten Maclear-Ratte, verschwanden.
Schätzungen zufolge sind weltweit fünf bis zehn Prozent aller Wirbellosenarten seit Beginn des Industriezeitalters ausgestorben. Auch in Australien sind von 200 untersuchten Insektenarten auf der Weihnachtsinsel viele seit über 100 Jahren nicht mehr gesichtet worden.
Naturschutzmaßnahmen konzentrieren sich fast ausschließlich auf prominente Tiergruppen wie Säugetiere und Vögel, während Wirbellose weitgehend ignoriert werden. Das liegt vor allem daran, dass wir schlichtweg zu wenig über sie wissen: Welche Arten gibt es überhaupt? Welche sind gefährdet? Und wie viele könnten bereits unwiederbringlich verloren sein? Diese Wissenslücken zu schließen, ist ein entscheidender Schritt, um das Aussterben dieser oft übersehenen Tiergruppe zu verhindern.
Ein bis drei Wirbellose sterben wöchentlich in Australien aus
Die Studie von Woinarski und Kollegen nutzt verschiedene Ansätze, um die Verluste bei Wirbellosen realistisch zu bewerten. Eine Methode war, die Aussterberaten von Wirbeltieren und Pflanzen in Australien auf Wirbellose zu übertragen, um so eine Schätzung für diese oft übersehene Tiergruppe zu erhalten. Die Ergebnisse sind erschreckend: Zwischen 39 und 148 Arten von Wirbellosen könnten allein im Jahr 2024 aussterben. Das entspricht einer Rate von ein bis drei Arten pro Woche. Viele dieser Verluste bleiben unbemerkt, da zahlreiche Arten nie wissenschaftlich beschrieben wurden.
Diese hohe Verlustrate liegt lässt sich vor allem dadurch erklären, dass bestimmte Arten bei der Aufmerksamkeit der Gesellschaft und den Investitionen in den Naturschutz stark bevorzugt werden, während andere weitgehend vernachlässigt werden. Tiergruppen wie Säugetiere oder Vögel werden bevorzugt geschützt, während Wirbellose weitgehend ignoriert werden.
Zu den Hauptursachen des Aussterbens von Wirbellosen gehören massive Lebensraumzerstörung, invasive Arten, die Verschlechterung aquatischer Ökosysteme, veränderte Feuerregime und der großflächige Einsatz von Chemikalien wie Pestiziden und Herbiziden. Viele Wirbellose sind zudem aufgrund ihrer geringen Mobilität, der Spezialisierung auf kleine Lebensräume und ihrer hohen Empfindlichkeit gegenüber Umweltveränderungen besonders anfällig. Diese Kombination macht sie zu einer der gefährdetsten Gruppen im australischen Ökosystem.
Was muss sich ändern?
Australien hat sich 2022 im Rahmen des Kunming-Montreal Global Biodiversity Framework verpflichtet, das Aussterben gefährdeter Arten zu verhindern. Wenn laut Studie nun aber jede Woche ein bis drei Wirbellose aussterben, kann die australische Regierung ihr Versprechen offensichtlich nicht einhalten. Um das Artensterben zu bremsen, muss sich etwas ändern.
Ein zentraler Ansatzpunkt ist, den Fokus stärker auf unbekannte Arten zu legen. Diese Arten müssen wissenschaftlich benannt und beschrieben werden. Ihr Bedrohungsstatus muss ermittelt und die Arten selbst überwacht werden, denn nur so können hochbedrohte Arten identifiziert werden, um gezielte Schutzmaßnahmen zu ermöglichen. Projekte wie das australische BushBlitz-Programm, das seit 2010 mehr als 1.900 neue Wirbellosenarten entdeckt hat, sollten ausgeweitet werden.
Ein weiterer Schlüssel ist der Erhalt und Schutz ihrer Lebensräume. Viele bedrohte Wirbellosenarten leben in kleinen, spezifischen Gebieten, wie Regenwaldinseln oder Karstlandschaften. Neue Schutzgebiete auszuweisen und das Management bestehender Reservate zu verbessern, ist essenziell, um diese sensiblen Lebensräume zu bewahren.
Auch die Naturschutzgesetze müssen reformiert werden. Der Schutzstatus von Wirbellosen wird oft aufgrund fehlender Daten nicht anerkannt. Mit dem Vorsorgeprinzip könnten jedoch auch schlecht dokumentierte, aber hochgefährdete Arten berücksichtigt werden. Moderne Technologien wie DNA-Barcoding und eDNA-Analysen bieten zudem neue Möglichkeiten, unbekannte Arten schnell und effizient zu identifizieren. Diese Technologien könnten in Überwachungsprogramme integriert werden, um Bedrohungen frühzeitig zu erkennen.
Zusätzlich müssen die Gefahren durch Feuer und invasive Arten eingedämmt werden. Häufige oder besonders schwere Brände gefährden spezialisierte Arten stark. Angepasste Feuerintervalle könnten ihre Erholung ermöglichen. Gleichzeitig ist die Überwachung und Bekämpfung invasiver Arten, etwa eingeschleppter Ratten, Katzen oder Insekten, notwendig – insbesondere auf Inseln mit endemischen Arten.
Regelmäßige Monitoring-Programme sind entscheidend, um Populationsentwicklungen zu verfolgen und neue Bedrohungen frühzeitig zu identifizieren. Dies erfordert die Zusammenarbeit von Regierungen, Wissenschaftlern und Bürgerwissenschaftlern. Durch einen integrierten Ansatz, der diese Maßnahmen vereint und den Schutz von Wirbellosen in den Vordergrund rückt, kann Australien die Verluste dieser oft übersehenen Tiergruppe verringern und seine Ökosysteme stabilisieren.
Quelle
- Woinarski, J.C.Z. et al. (2024). This is the way the world ends; not with a bang but a whimper: Estimating the number and ongoing rate of extinctions of Australian non-marine invertebrates. Cambridge Prisms: Extinction, 2, p. e23. doi:10.1017/ext.2024.26.
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