desmodus rotundus
Zeichnung des Gemeinen Vampirs von 1847, ein heute noch lebender Verwandter des ausgestorbenen Riesenvampirs. in Alcide Dessalines d'Orbigny, Public domain, via Wikimedia Commons)

Riesenvampir

Riesenvampir: Vorbild für Camazotz und Caoera?

Wissenschaftler spekulieren bisweilen, ob einst tatsächlich existierende große Fledermausarten wie der Riesenvampir als Inspiration für unterschiedliche Mythen, Legenden und Geschichten aus Mexiko und Mittelamerika gedient haben könnten. Am bekanntesten ist wohl Camazotz (oder Cama Zotz), eine Fledermaus-Gottheit aus der Maya-Mythologie – ein Monstrum mit Fledermauskopf, das in der Höhle Zotzilaha, dem heutigen Guatemala, hauste. Und die Mura, ein indigenes Volk Brasiliens, haben Caoera, eine blutfressende Fledermaus von der Größe eines Geiers. Auch in anderen Kulturen und Gegenden, etwa im Bundesstaat Chiapas im Südosten Mexikos, gibt es Geschichten über fledermausähnliche Dämonen.

So abwegig sind die Spekulationen nicht, denn in anderen Kulturen haben Fabelwesen auch häufig reale Vorbilder aus der Tierwelt. Die in madagassischen Legenden vorkommenden Kreaturen Tratratratra, Antamba und Kilopilopitsofy konnten zum Beispiel auch neuzeitlich ausgestorbenen Tieren zugeordnet werden: dem Riesenlemuren Palaeopropithecus ingens, der Riesenfossa oder Lemerles Flusspferd.

Riesenvampir – Steckbrief
wissenschaftlicher NameDesmodus draculae
englischer NameGiant Vampire Bat
ursprüngliches VerbreitungsgebietMittel- und Südamerika
Zeitpunkt des Aussterbensum 1820
Ursachen für das Aussterbenunklar, eventuell Verlust von Beutetieren, Klimawandel

Riesenvampir mit riesigem Verbreitungsgebiet

Die ersten fossilen Überreste eines Riesenvampirs fand der Paläontologe Omar J. Linares 1965 in der Tropfsteinhöhle Cueva del Guácharo in Venezuela. Er vermutete, es handele sich um eine mögliche Art der Gattung Desmodus aus dem Pleistozän. Erst 1988 wurde der Riesenvampir unter anderem von Linares dann wissenschaftlich beschrieben. Das Artepitheton der neuen Fledermausart geht auf Graf Dracula, „den größten menschlichen Vampir der Folklore“, zurück.

Fossilien des Riesenvampirs fanden Wissenschaftler nicht nur in Venezuela, sondern auch in Höhlen Mexikos, Belizes, Brasiliens und Argentiniens. Einige Experten vermuten, dass sein Verbreitungsgebiet auch Ecuador, Französisch-Guayana und Guayana beziehungsweise ganz Südamerika und Mittelamerika umfasst haben könnte.

Vampirfledermäuse ernähren sich von Blut

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Eine Kuh mit einem frischen Biss durch eine Vampirfledermaus. (© Uwe Schmidt, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons)

Beim Riesenvampir handelt es sich um die größte bekannte Art aus der Familie der Vampirfledermäuse (Desmodontinae). Er ernährte sich, wie heutige Vampirfledermäuse auch, ausschließlich vom Blut anderer Lebewesen. Welche Tiere genau der Riesenvampir als Nahrung bevorzugte, ist nicht bekannt. So vermuten einige Zoologen, dass er sich von Tieren der Megafauna ernährte. Andere wiederum nehmen an, dass er vor allem Meerschweinchenverwandte (Caviomorpha), wie etwa Stachelratten, Nutrias oder Pakaranas, jagte. Andere potenzielle Beutetiere, die dem Riesenvampir zur Verfügung gestanden hätten, wären auch Hirsche, Viscachas oder sogenannte Neuweltkamele in den Bergregionen im Westen und Süden Südamerikas gewesen.

Viscachas (Lagostomus maximus) sind eine Nagetierart aus der Familie der Chinchillas. Sie erreichen ein Gewicht von bis zu acht Kilogramm. Pakaranas (Dinomys branickii) sind mit einem Gewicht von bis zu 15 Kilogramm nach den Wasserschweinen (Hydrochoerus hydrochaeris) die größten Nagetiere Südamerikas.

nahrungsaufnahme gemeiner vampir
Gemeiner Vampir bei der Nahrungsaufnahme an einem Rind. (© Sandstein, CC BY 3.0, via Wikimedia Commons)

Heute existieren noch drei Vampirfledermaus-Arten: der Gemeine Vampir (Desmodus rotundus), der Kammzahnvampir (Diphylla ecaudata) und der Weißflügelvampir (Diaemus youngi). Eine weitere Vampirfledermaus-Art, Desmodus stocki, ist vor circa 3.000 Jahren ausgestorben und war im Süden der USA und in Mexiko endemisch.

Der Gemeine Vampir ernährt sich vom Blut von Säugetieren (etwa Rinder, Esel, Tapire oder Pferde), der Kammzahnvampir bevorzugt wie auch der Weißflügelvampir Vogelblut. Die nachtaktiven Vampirfledermäuse nutzen wärmeempfindliche Sensoren, um gezielt nach Venen unter der Haut ihrer Beutetiere zu suchen. Haben sie eine Vene gefunden, verteilen sie ihren Speichel, der ein Betäubungsmittel enthält, auf der Haut des Beutetieres. Anschließend entfernen sie dort die Federn oder Haare und beißen mit ihren scharfen Eck- und Schneidezähnen ein Stück aus der Haut des Tieres heraus und lecken das austretende Blut auf oder saugen es durch die Rillen an der Zungenunterseite.

Der Speichel der Vampirfledermäuse enthält zusätzlich gerinnungshemmende Substanzen, sodass das aus den Tieren austretende Blut während des Trinkvorgangs nicht gerinnt. Pro Mahlzeit nehmen heute existierende Vampirfledermäuse zwischen 20 und 30 Milliliter Blut auf. Die Gefahr für die Beutetiere ist weniger der Biss oder Blutverlust an sich, als dass sie sich mit Krankheiten wie Tollwut infizieren oder es zur Infektion der offenen Wunde kommt.

Riesenvampir: Flügelspannweite von mindestens 50 Zentimetern

Desmodus draculae
Unterkieferknochen des Riesenvampirs. (© A. C. Tatarinov, CC0, via Wikimedia Commons)

Der Riesenvampir war rund 30 Prozent größer als der Gemeine Vampir, der heute vom Norden Mexikos bis in den Süden Südamerikas vorkommt. Aus der wissenschaftlichen Erstbeschreibung geht hervor, dass der Riesenvampir-Schädel etwas länger als drei Zentimeter war.

Basierend auf den Schädelmaßen vermuten Experten eine Flügelspannweite von rund 50 Zentimetern (manche gehen sogar von 60 bis 75 Zentimeter aus). Das Körpergewicht des Riesenvampirs soll etwa 60 Gramm betragen haben. Zum Vergleich: Beim Gemeinen Vampir beträgt die Flügelspannweite höchstens 40 Zentimeter und das Gewicht variiert von 15 bis 50 Gramm.

Wann und warum sind Riesenvampire ausgestorben?

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Auf dem Boden laufender Gemeiner Vampir. (© Uwe Schmidt, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons)

Von der einstigen Existenz des Riesenvampirs weiß man nur aufgrund fossilen und subfossilen Materials in Zentral- und Südamerika. Da nicht alle Funde fossilisiert waren, vermuten Experten, dass diese Tierart bis vor gar nicht so langer Zeit noch gelebt haben könnte.

Die meisten Überreste des Riesenvampirs stammen aus dem Pleistozän, einige aus dem Holozän. Eine im Jahr 2000 veröffentlichte Studie des argentinischen Paläontologen Ulyses F. J. Pardiñas befasst sich mit einem vollständigen linken oberen Riesenvampir-Eckzahn, der in der Provinz Buenos Aires in Argentinien entdeckt wurde. Der Zahn wurde fossilhaltigen Sedimenten entnommen und lässt sich auf das späte Holozän (etwa 1650) datieren. Er ist etwa 25 Prozent größer als der des heute existierenden Gemeinen Vampirs. Anderes subfossile Überreste des Riesenvampirs haben Forscher auf die Zeit zwischen 1482 und 1795 datiert.

Warum der Riesenvampir ausgestorben ist, ist nicht bekannt. Eine Hypothese stellt Darren Naish 2013 in seinem Artikel What did giant extinct vampire bats eat? auf. Er vermutet, dass der Riesenvampir auf Megafauna-Säugetiere als Beute hochspezialisiert war. Als die großen Säuger während der quartären Aussterbewelle schließlich verschwanden, war der Riesenvampir nicht dazu in der Lage, auf kleinere Beutetiere zurückzugreifen.

Eine 2021 erschienene Studie zum Fund eines versteinerten, 100.000 Jahre alten Riesenvampir-Kiefers in einer argentinischen Höhle oder einem Bau mit einem Durchmesser von 1,2 Metern, der einem Riesenfaultier (Mylodontidae) zugeschrieben wird, könnte darauf hinweisen, dass sich der Riesenvampir tatsächlich von Megafauna-Säugetierblut ernährte. Allerdings ist auch möglich, dass die Vampirfledermaus die Höhle lediglich betrat, um Zuflucht zu suchen oder zum Opfer eines anderen Tieres wurde, so der Paläontologe Daniel Tassara.

Tassara und seine Kollegen gehen zudem davon aus, dass der Riesenvampir während der Kolonialzeit um 1820 ausstarb, möglicherweise infolge der Kleinen Eiszeit. Die Kleine Eiszeit begann Anfang des 15. Jahrhunderts und dauerte bis ins 19. Jahrhundert an. Sie zeichnete sich regional und zeitlich durch ein kühleres Klima aus. Es gibt die Theorie, dass die Entdeckung und Eroberung Amerikas ab 1492 der Auslöser für die Abkühlung des Weltklimas war.

Die IUCN listete den Riesenvampir bis 2016 als ausgestorben, nahm ihn dann aber in der Annahme, er sei vor 1500 ausgestorben, wieder von der Roten Liste.

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